Emsiges Werkeln in der "Black Box" Gedächtnis: Fälschen mit System

Journal/Book: Münch. med. Wschr. 140 (1998) Nr. 24 S. 18-20. 1998;

Abstract: Trauen Sie Ihrem Gedächtnis über den Weg? Wenn ja sollten Sie vielleicht noch einmal darüber nachdenken. Täuschungen und Fehlleistungen unserer "Black Box" sind nämlich fast unvermeidlich - Erinnerungsfragmente werden später regelrecht überschrieben oder auch ganz anders interpretiert als zum Zeitpunkt ihres Abspeicherns. Die Folgen können nur skurril aber auch dramatisch sein wenn z.B. bei Sexualdelikten Unschuldige als Täter identifiziert werden. Wie es zu solchen Fehleistungen kommt und welchen Irrtümern der Mensch typischerweise erliegt schildert der Report. Wer erlebt das in der Praxis nicht beinahe täglich: "Herr Doktor ich brauch' wieder die Tabletten für mein Herz. Die kleinen blauen in der roten Schachtel Sie wissen schon. Der Apotheker kennt sie genau er holt sie immer ganz hinten rechts aus der Schublade." In der Tat einigermaßen präzise Angaben des schon etwas älteren Patienten von denen sich beim Blick in die Kartei herausstellt daß sie bis auf das "klein" nicht stimmen. Der Patient hat sich getäuscht; sein Gedächtnis hat ihn im Stich gelassen. "Kann mir nicht passieren" wird manch einer denken und die Episode mit einem Achselzucken in der Schublade .Altersvergeßlichkeit" ablegen. Doch halt: Der geschilderte Fall steht für ein Phänomen das jedermann betrifft gleichgültig ob alt oder jung ob krank oder gesund. Das Gedächtnis ist weder Tonbandprotokoll noch Videoaufzeichnung. Das menschliche Gedächtnis ist vielleicht nicht gerade ein Sieb wie es im Volksmund heißt. Ebensowenig ist es aber ein Tonbandprotokoll oder eine akkurate Videoaufzeichnung dessen was ein Individuum erlebt und bewußt oder unbewußt speichert. Das menschliche Gedächtnis ist ein Konstrukt das vielfältigen Einflüssen unterliegt und laufend modifiziert wird. Einmal gelegte Gedächtnisspuren werden ergänzt korrigiert überschrieben und das was abgerufen - also erinnert - wird entspricht nicht notwendigerweise der ursprünglich "eingebrannten" kodierten Version. Nachträgliche Erkenntnisse Zusatzinformationen oder auch kulturspezifische Erwartungen und Vorurteile fließen automatisch in die einstige Originalspur ein und bedingen beim Abruf unter Umständen eine veränderte Interpretation. Mit anderen Worten: Das Gedächtnis ist kein vollständiges Skript in dem wir nach Belieben Seite für Seite aufschlagen und lesen; es ist vielmehr ein Buch das aus wenigen vorhandenen Fragmenten laufend neu geschrieben wird - stetig ergänzt oder bereinigt durch neu Gelerntes durch Wunschvorstellungen durch Imagination. Gedächtnis und Wahrheit. Einen Eid auf Erinnerungen zu schwören ist außerordentlich gewagt. Die moderne Gedächtnisforschung liefert nicht nur den Nachweis dafür daß Täuschung und falsche Erinnerung häufig auftreten; sie zeigt auch eindrücklich auf wie diese zustandekommen bzw. induziert und provoziert werden können. Strafverfolgungsbehörden und Polizei sehen sich immer wieder mit falschen Zeugenaussagen und Fehlidentifikationen konfrontiert. Das nicht unbedingt weil die Zeugen bewußt das Geschehen verfälschten sondern weil sie durch nachträgliche Informationen verunsichert oder fehlgeleitet weil Gedächtnisspuren zwischenzeitlich überschrieben wurden bei der Aussage vor Gericht folglich die neueste Version abgerufen wird nicht die ursprüngliche. ... ___MH

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