Belastung und Entlastung in Pathogenese und Hygiogenese - Eine Konzeption zur Physiotherapie |
Journal/Book: Z. Physiother Diätetik Nahrungskunde 13 (1967) Nr.4. 1967;
Abstract: Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster (Direktor: Dr. med. habil. H. Jordan) Eines der häufigsten Worte das Kranke und Ärzte das die heutigen Menschen überhaupt gebrauchen ist das Wort "Belastung". Es drückt diese Vokabel zum Teil etwas sehr Spezielles etwa die körperliche Arbeitsbelastung die sportliche Belastung oder die Belastung durch ökonomische oder technische Anforderungen aller Art aus wobei meist nicht nur von Be- sondern von Überlastung die Rede ist; zum Teil fungiert sie als Bezeichnungsform für eine Summe von Faktoren die unserer modernen Zeit spezifisch eigentümlich zu sein scheinen und ihr ein im letzten Sinne negatives Vorzeichen geben. Nun ist jegliches Leben - schon für das embryonale ist es nachweisbar - eine laufende nach Anlage Training und äußeren Umständen verschieden gut gelingende Auseinandersetzung des Organismus mit Belastung und Entlastung. Diese funktionale Polarität ist ein Grundtypus des Lebensphänomens da "Leben" überhaupt nur als Auseinandersetzung der gestalteten Materie mit ihren sie gestaltenden Kräften zu verstehen ist. Belastung und Entlastung - wir können ihnen gleichsetzen Arbeit und Ruhe Anspannung und Entspannung Wachsein und Schlaf Ergotropie und Trophotropie - sind in rhythmischen Ordnungen funktionell verknüpft. Deren ungestörter einem individuell entwickelten Tempo folgender Ablauf ist eine conditio sine qua non der Gesundheit. Diskontinuitäten dieses Ablaufes bezeichnen wir als Dysrhythmien oder besser noch als Dyskymatien und diese sind somit Elemente des funktionellen Krankseins. In der Tat ist nun unsere Gegenwart auch die Gegenwart des funktionellen Krankseins bzw. seiner Dominanz gegenüber der organischen Krankheit. Funktionsstörungen sind immer auch Rhythmusstörungen. Die "Theorie des Organismus" faßt Krankheit als den Verlust der bionomen Ordnung der lebensgesetzlichen Ordnung wie Rothschuh13 es nennt auf. Wir müssen deshalb einmal näher untersuchen welche Belastungen wir im Alltag durchzustehen haben die mehr sind als jene einfachen Erscheinungen der physiologischen Ergotropie und die zu einem Verlust der bionomen Ordnung führen können. Das sind - ich sage damit nichts Neues - muskuläre Belastungen wie körperliche Arbeit Sport sensorische Belastungen wie Lärm- Licht- Geruchsbelastungen physikalische Belastungen wie Wärme Kälte Strahlung Druckwellen digestive Belastungen wie unvernünftige Ernährung Genußgifte seelische Belastungen wie Zwang Hetze echte Not Angst Ungewißheit. Jeder wird zugeben müssen wie reich tatsächlich unsere zivilisatorische Gegenwart an solchen Noxen ist die in ihrer Summation eine pathokinetische und pathogenetische Gewalt haben welche nicht übersehen werden kann und darf. Denken wir hierbei nur an die Epidemiologie des Herzinfarktes die heute schon quantitativ die Epidemiologie der Pest des Mittelalters weit übertroffen hat. Natürlich ist meine Aufgliederung der Belastungsarten formal insofern als jede einzelne von ihnen letztlich zu einer seelischen Belastung werden kann1. Mit dieser Feststellung ist aber bereits auch eine Definition dessen verbunden was wir im ärztlichen Sinne als "Seele bezeichnen: Sie ist um es mit den Worten von Johannes Müller11 zu sagen: eine "besondere Lebensform des Organismus und daher nur ein Teil von der Physiologie im weiteren Sinne des wertest. Es wäre eine Beeinflussung der Seele über die Sphäre des Körperlichen nicht möglich wäre dieses Wort Müller's nicht zutreffend - ungeachtet der erweiterten Fassung des Seelebegriffes durch Philosophie und Theologie. Pathophysiologie ist im letzten Sinne also immer auch "psychische Alteration" - diese Bezeichnung nur weil der Terminus "Psychopathologie" definitiv vergeben ist. Und da jede Störung der bionomen Ordnung zugleich Pathophysiologie ist wird auch das funktionelle und rhythmologische Kranksein als Teilstück dieser Ordnungsstörung eine psychische Alteration eine psychische Belastung sein - vice versa gilt selbstverständlich das Gleiche. Wie sehr die Psyche vom Soma her steuerbar ist beweisen die Effekte der modernen Psychopharmaka und die der Rauschgiftdrogen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Lysergsäure die zum modernen Opium geworden ist - ein Mittel zum Zwecke der Flucht aus sich selbst in eine Traum- und Halluzinationswelt. Nun liegt das Besondere unserer "Belastung" in der Gegenwart in einer ganz eigentümlichen Kombination: Wir Gegenwartsmenschen - das gilt wohl für die gesamte zivilisierte Welt - sind überfordert im sensorischen digestiven und seelischen Bereich (opto-akustische Reizüberflutung Über- und Fehlernährung Managerismus und Funktionärsverhalten) und wir sind typisch unterfordert im muskulären Bereich (Bewegungsmangel Trainingsverlust Technisierung). Wir könnten hierzu fast noch den physikalischen Bereich nennen wenn wir unseren künstlichen Schutz gegen Temperaturschwankung gegen körperliche Erschütterung und gegen Wind und Wetter bedenken Jedoch sind wir einer Überbelastung an elektromagnetischen Wellen an korpuskulärer Strahlung und an Luftchemismen ausgesetzt von denen die Strahlung und die elektromagnetischen Wellen in ihrer Effektivität noch keineswegs befriedigend abgeklärt sind. Hierzu kommt die Tatsache daß jede Kombination solcher Belastungsfaktoren das Krankheitsrisiko verstärkt. Fassen wir diese Situation zusammen so konstatieren wir eine Unterforderung in physischer und eine Überforderung in psychischer Hinsicht; eine Störung empfindlichster Art des psychophysischen Gleichgewichtes die im Prinzip sowohl Dysfunktion als auch Dyskymatie eine Entharmonisierung der Gesamtpersönlichkeit eine Dysmorphe ein Verlust der Gestalt-Einheit des Menschen ist. Störungen solcherart werden primär im funktionalen sekundär aber erst im morphologisch-organischen Bereich manifest. Das pathofunktionelle Substrat dieser Art von Belastung ist charakterisiert durch Überfunktion bzw. Hyperplasie der Nebennierenrinde und der Hypophyse mit Überproduktion sympathikomimetischer biogener Amine. Sie kennen vielleicht das experimentelle Beispiel in dem Hund und Katze in einem Glaskäfig nur durch eine Glaswand getrennt zusammengesperrt wurden: Im Daueranblick in Dauerfurcht also in permanenter Haß- und Furchtsituation sterben beide Tiere trotz exzellenter äußerer Lebensbedingungen bald unter den Zeichen des sympathikovasalen Reaktionsversagens mit Hyperplasie und Hyperfunktion der Nebennierenrinde und der Hypophyse. Ein solcher Versuch hat fatale Ähnlichkeiten mit mancher Situation aus dem täglichen Leben. Die Ergotropie und die Überlastung des Myokards mit den energieregelnden Katecholaminen ist eine der häufigsten Ursachen für den Herzinfarkt. Ein zweites entscheidendes Moment tritt zu dieser Situation hinzu: Es ist die Überforderung der Zeitgestalt des Menschen. Jene Dyskymatie die allein durch die psychophysische Relationsstörung erzeugt werden kann wird künstlich dadurch vertieft daß der wichtigste Grundrhythmus des Menschen durch willkürliche Verschiebung der exogenen Zeitgeber in seiner Periodik und auch in seiner Amplitude verschoben wird. Die Leistungsminima und -maxima sind beim Menschen etwa nach dem 24-Stundenrhythmus formiert - genauer gesagt sind es wie es Halberg bezeichnet circa-diane Rhythmen von 24 6 Stunden Dauer. Wird nun die Anspannungsphase des Organismus über die ihr zugehörige Phasenlänge ausgedehnt so erleidet die Gesamtrhythmik eine Verschiebung die darin gipfelt daß die Erholungsphase zu kurz kommt. Wir sehen damit daß das zweite pathogenetische oder pathokinetische Moment in einer Verlängerung der ergotropen Belastungs- und in der Verkürzung der trophotropen Erholungsphase liegt: Auch dies ein jedem von uns geläufiges Phänomen. Wir können also sagen: Dysfunktion ist Dyskymatie ist zugleich auch Dystrophie im Sinne der unzulänglichen Trophotropie. Das Dritte das diesem Zweiten folgt ist eine Konsequenz dessen was Wilder 1931 in seinem Ausgangswertgesetz niedergelegt hat. Jene erwähnte Phasenverschiebung zugunsten der Ergotropie bedingt eine laufende Verschiebung des vegetativen Sollwertes des kybernetisch formierten autonomen Reglersystems unseres Organismus. Eine solche Verdrängung des Sollwertes nach der ergotropen Seite ist von Menzel für die Nachtschichtarbeiter8 und von Wilder selbst in seinen Adrenalinversuchen17 festgestellt worden. Man kann Ähnliches auch sehr schön an der langwelligen kardialen Rhythmik nachweisen. Die Schlagfolge des Herzens zeichnet sich ja durch langwellige Schwankungen aus die man mittels der Periodogrammanalyse nach Blume berechnen und nach Periodik Phasenlage und Amplitude bestimmen kann. Ich habe in ausgedehnten eigenen Untersuchungen zeigen können daß die langwellige Herzrhythmik typischerweise bei allen Ergotropismen erheblich herabgesetzt d. h. zur Hypokymatie zum Rhythmikverlust hin verschoben ist; desgleichen aber auch bei allen Herzkrankheiten wie Infarkt Kardiosklerose Insuffizienz Hypertension u.ä. Nikotin Sympathikotonica Atropin wirken hypokymativ und alles in allem genommen ergibt sich hierbei eine bedrohliche Parallelität zwischen Herzkrankheit und vegetativer Sollwertverstellung6. Diese Sollwertverstellung führt uns nun weiter zum Verständnis eines ganz anderen pathogenetischen Faktors nämlich dem der Entlastung. Ihm wird verhältnismäßig wenig Beachtung geschenkt; ja mitunter wird in der Entlastung ein fundamentaler ausschließlich günstiger therapeutischer Faktor gesehen wie etwa die Gewebsentlastung durch den chirurgischen Schnitt oder die Punktion. Thure von Uexküll hat uns aber in feinsinnigen und eminent wichtigen Untersuchungen12 gezeigt wie "Entlastung als pathogenetischer Faktor" zu verstehen ist.- Das Phänomen selbst ist nicht neu9 14; Sie alle kennen es: Der Heimkehrer der in den Jahren der Erwartung seiner Entlassung und Rückkehr alle Strapazen der Gefangenschaft überstand und der kurze Zeit nach seiner Wiedereingliederung ins normale Leben stirbt - der Autofahrer der nach langer Fahrt endlich am Ziel im Kreise seiner Bekannten oder seiner Familie wenige Stunden nach dem Ende der Fahrt am Infarkt zugrunde geht - der Pensionierungstod des Beamten gewisse Sporttodesfälle nach dem Wettkampf und schließlich die akute zerebrale Insuffizienz nach einem für indiziert gehaltenen Aderlaß der Entspannungskollaps das sind Beispiele vom pathogenetischen Gewicht der chronischen akuten und perakuten Entlastung. Gerade der Kriegsgefangene gibt uns ein hervorragendes Beispiel der inneren psychophysischen Sollwertverstellung. Wenn Wunnenberg in seinem gründlichen analytischen Bericht über die Kriegsgefangenen19 sagt: "So war die Hoffnung jedem der zähest verteidigte Besitz - nur wer sie verloren hatte hatte wirklich alles verloren" - so ist damit auch die Dauerspannung bis zur erhofften Entlassung glänzend gekennzeichnet. Wird nun aber eine solche Sollwertverstellung extrem und langdauernd erhalten so wird sich eine gegenteilig wirksame Situation krisenartig entladen. Freilich kann die Sollwertverstellung an sich schon solche Krisen herbeiführen - Absturz in die gegensätzliche Reaktionslage - Zusammenbruchsituation unter dem Streß - jedoch ist der Organismus unter Zwangsumständen oft lange in der Lage unter den Bedingungen der Sollwertverstellung zu existieren. Der plötzliche Wegfall dieser sollwertverstellenden Kraft aber kann dann ein massives fatales Abrutschen in eine Trophotropie hervorrufen. Die massive Gegenregulation zur Anspannung bedeutet dann nicht Entspannung sondern Tod! Dies trifft ganz sicher auch bei der relativ akuten Stressierung des Organismus zu. Bei Wegfall der zur Adaptation zwingenden Reize kommt es zur Teil- oder Vollkrise unter dem Bild des echten Zusammenbruches durch den Streß hier aber eigentlich als Zusammenbruch nach dem Streß zu verstehen. Man begreift vielleicht von hier aus so recht das bekannte Goethe-Wort: "Unserer Krankheit ganzes Geheimnis schwankt zwischen Übereilung und zwischen Versäumnis". Übereilung und Versäumnis: Das darf der Naturwissenschaftler mit Plus und Minus der Arzt mit Überforderung und Unterforderung übersetzen. Sind wir bisher in der Betrachtung der Pathogenese von der Belastung zu der Entlastung gegangen so leitet uns der umgekehrte Weg auch zur Wiederbegegnung mit der Pathologie durch die Therapie. Als therapeutisches Fundamentalprinzip nämlich ist uns die Entlastung nur allzu geläufig. Vom alten Purgieren Schröpfen zum Ader lassen Vomitieren über das Punktieren über gewisse Operationen über Bettruhe bis zur Schonkost ist uns "Entlastung" als fester Bestandteil der ärztlichen Kunst eine Denkgewohnheit. Es gehört die Entfernung des Kranken aus belastendem Milieu oder die Anwendung der Transquilizer der "Sonnenbrille für die Psyche" ebenso dazu wie die Plattfußeinlage oder das Stützkorsett. Wie aber entlastende Therapie ebenso schädlich sein kann wie die Belastung zeigt das Beispiel der zu langen Bettruhe der Herzinfarktkranken die schon erwähnte zerebrale vaskuläre Insuffizienz durch den Aderlaß zur Senkung des erhöhten arteriellen Blutdruckes die sinnwidrige Magen- und Gallenschonkost mit Kartoffelpüree und Weißbrot die apparative orthopädische Versorgung soweit sie Ausschließlichkeitsanspruch erhebt um nur einige Beispiele zu nennen. Die Kenntnis der pathologischen Situation welche eine entlastende Therapie fordert oder aber bereits eine belastende verlangt viel Erfahrung und Beobachtungsgeduld; sie ist aber nur möglich auf dem Boden einer richtigen prinzipiellen Stellung zu dieser Problematik. Besonders übel sind hierbei meist noch die Verhältnisse in der Diätetik. Diät heißt nicht "Schonkost" sondern gezielte Vollwertnahrung". Die richtige Indikationsstellung zur belastenden Therapie sollte so gründlich wie möglich und so frühzeitig wie möglich gestellt werden. Nun sei aber hier das Wort "belastend" eben nicht falsch verstanden: eine belastende Therapie ist dosierte angepaßte Trainings- und Übungstherapie. Sie zielt auf eine Übung und Funktionsverbesserung der organismischen Leistung ab etwa die des muskulären Bereiches der Skelett- der Gefäß- oder der Organmuskeln auf eine Inanspruchnahme der regulatorischen Mechanismen etwa des Kreislaufes des Wärmehaushaltes und deren koordinative assoziative korrespondierende oder orthochrome Bezüge auf eine Verbesserung spezieller Organfunktionen oder einer solchen der Energiebevorratung des Organismus. Sie ist deshalb in ihrer Gesamtheit "Physiotherapie" genannt worden womit das "Physiologische" das der Gesamtgestalt des Organismus angepaßte des therapeutischen Vorgehens charakterisiert sein soll. Diese Gesamtgestalt des Organismus ist aber nur anhand genügend umfassender vielschichtiger Denkmodelle zu verstehen. Wenn der Anatom Benninghoff sagt: "Struktur ist langsame Funktion"" - so ist damit Funktionsverlust auch Strukturbeeinträchtigung und umgekehrt. Mit einer solchen Formulierung ist eine ähnliche fundamentale Erkenntnis umrissen wie die der Gleichsetzung von Masse und Energie in der modernen Physik. Wir sprechen daher heute von "vermaschten Regelkreisen"´ (Bertallanfy) wenn wir die Kompliziertheit der ineinandergreifenden Mechanismen des gesunden und kranken Organismus beschreiben wollen. Gewissermaßen eine Faustskizze dieser Denkweise gibt uns das wohl allen bekannte Schema Ferdinand Hoff's von der vegetativen Gesamtumschaltung in die Hand. Es soll mir hier auch wenn ich als praktischer Vertreter der Physiotherapie zu Ihnen spreche nicht darum gehen das Für und Wider dieser Therapie im Einzelnen zu erörtern. Ich möchte nur im Grundsätzlichen bleiben und diese wie ich einmal sagen möchte sinnvoll belastende Therapie einer "sinnlosen" belastenden gegenüberstellen. Ich verstehe unter letzterer eine und jegliche Therapie der man schädliche Nebenwirkungen nachsagen muß. Ich bin Internist und weiß welch guten Grund wir modernen Ärzte haben das alte anscheinend in seiner Ethik für alle Zeiten gültige Wort: Natura sanat medicus curat" auch einmal umzudrehen: Medicus sanat - das hat er bewiesen wenn er seine Erfolge bei der Bekämpfung des Diabetes der Seuchen der Avitaminosen der Endokrinopathien der Sepsis bedenkt. Die Pathogenese - die wir hier am Beispiel der Belastung und Entlastung erörtert haben aber in ihr Gegenstück in die Hygiogenese13 konsequent überführen zu können verlangt die adäquaten Mittel der Entlastung und der Belastung in der Therapie: und dies letztere ist der Sinn des "curare" dessen das der medicus tut zur Unterstützung der natürlichen Restitutions- und Reorganisationskräfte des menschlichen Organismus. Er kann dies aber nicht tun wenn er Heilmittel verwendet die nur einseitig helfen zugleich aber so vielseitig effektiv sind daß sie schaden oder sogar töten. Es gehört wohl zu der erschütterndsten Lektüre für jeden Arzt die Vorträge von Martini7 Ühlinger16 Hoff3 Kimmig6 Jores4 und Meythaler10 über "Therapieschäden" auf dem Kongreß für Innere Medizin in Wiesbaden 1961 nachzulesen. Das "primum nil nocere" scheint nicht mehr "supremum lex medici" zu sein - wenngleich auch eine Reihe dieser "Therapieschäden" verständlich und im Vergleich zum Heilerfolg als in Kauf zu nehmen akzeptabel sind. Die 34 Todesfälle durch Anwendung der Zellulartherapie aber tödliche Ulkusblutungen als Folge der Kortisonüberdosierung bei chronischem Gelenkrheumatismus Rückenwirbelfrakturen mit Querschnittslähmung unter Kortison durch Osteoporose bei Rheumatikern Thrombosen und Lungenembolien nach Kortisonbehandlung und die herabgesetzte Infektresistenz die über Sepsis zum Tode führen kann Todesfälle an Staphylokokkus-hämolyticus Sepsis nach Breitbandantibiotikatherapie einer Pneumonie und hämorrhagische Colitiden myeloische Insuffizienzen Panmyelopathien etc. durch die verschiedensten Medikamente die Phenacetinschäden mit Urämiefolge die Conterganschäden die Megaphenhalluzinationen (die nicht Folge von Überdosierungen waren!) sind ärztlich nicht vertretbar; sie mögen als Beispiele einer sinnwidrigen belastenden Therapie genügen. All solche Versager sind aber nur möglich wenn und weil das Gesetz von der Notwendigkeit des vielschichtigen Denkmodelles über die Krankheit außer Acht gelassen wurde." Die Dosis macht daß ein Ding Gift ist" sagte Paracelsus - dies gilt auch für die Belastung. Das Leben als kybernetisch gesteuerter Prozeß ist ohne Belastung nicht denkbar - Leben selbst ist ja nur die permanente Reaktion auf die Belastungen der Umwelt die als Auslenkprozesse des Regelvorganges fungieren und somit lebenserhaltend wirken. Ausmaß Dauer und Periodizität dieser Auslenkmanöver gestalten unser funktionelles Leben d. h. Amplitude Frequenz und Periodik der Stör- resp. Belastungseinflüsse sind das Bestimmende für unsere gesunde oder aber kranke Gesamtsituation. Physiotherapie wäre demnach eine übende trainierende und daher eine Rhythmotherapie die als Basis- und Begleittherapie überall Eingang finden muß - ja sie kann bei vielen Krankheitsprozessen mit beinahe vollständiger Ausschließlichkeit das ärztliche Handeln prägen. Sinnvoll ist sie jedoch nur - und das möchte ich stark betont wissen - wenn sie sich nicht als Gegner oder gar als Überlegene der klinischen Pharmakotherapie oder der operativen Therapie gegenüber aufspielt wenn sie sich gewissenhaft - jedenfalls gewissenhafter als bisher allgemein üblich - an der klinischen Situationsindikation schult wenn sie die Grenzen ihrer Wirksamkeit kennt und wenn sie Selbstkritik höher einschätzt als ihren naturphilosophischen Berechtigungsnachweis. Alle Physiotherapie muß Dienerin am Kranken sein wie jede andere Therapie; verblendeter Autismus beziehungsloser Technizismus oder nebulöse Verherrlichung ihrer angeblich alleinseligmachenden Heilkräfte - das ist ihr Selbstmord. Ist glücklicherweise der vitalistisch-animistische Begriff der "Lebenskraft" durch einen konsequenten biologisch-wissenschaftlichen Einsatz überwunden worden so mit ihm auch der ebenso verschwommene Begriff der "Heilkraft" der "vis medicatrix naturae": "Es gibt keine Kräfte" so formuliert Rothschuh zu Recht13 die nicht in der Organisation der Körpers verankert wären...,sondern nur Prozesse; die Ausflüsse der Organisation sind. Der nun noch fehlende letzte Stein zu dem Gebäude das wir aufzubauen beabsichtigten ist der Gedanke daß den pathogenen Bedrohungen unserer gesunden Existenz durch die Prozesse der Zivilisation und der technisch-wissenschaftlichen Revolution nur durch eine auf sie abgestimmte Therapie wirksam begegnet werden kann. Denn mit dem Aufwand pessimistischen Protestes gegen diese Revolution ist nichts weiter als eine Erkenntnis ihrer Negativitäten erreicht. Mag dabei der Mensch im Allgemeinen stehen bleiben dürfen oder nicht: dem Arzt ist es von Berufes wegen geboten über diesen Protest hinaus zur helfenden Tat zu schreiten; er hat den Weg zu finden mit diesen Negativitäten fertig zu werden oder - wenn dies mit Recht als reichlich utopisch-vermessen erscheint - ihnen soweit als irgendmöglich zu begegnen. In dieser Aufgabe liegt das was heute so oft und auch so laut als "humanistisches Anliegen" des Arztes gepriesen wird. Diagnosis" heißt ja nicht eigentlich "Erkenntnis" sondern heißt vielmehr "Durchschauen" der Krankheit: Unsere Zeit medizinisch richtig zu durchschauen erscheint mir aber als die wichtigste diagnostische Aufgabe der dann eine konsequente Therapie zu folgen hat. Das Wegschaffen der schädlichen und das Einführen der sinnvollen Belastung die Beseitigung der Dysrhythmien und das Anregen der organismischen Ordnungsbestrebungen; das sind die beiden Hauptpfeiler einer wirklichen Physiotherapie. Sie ist das was bei den Alten unter "Diät" verstanden wurde: Vernünftige Regulierung und Einrichtung der Lebensführung angefangen von notwendiger Nahrung zur Bewegungsordnung zur Psychohygiene und zur Trainierung der Regelgüte aller lebenswichtigen Prozesse. In diesem Sinne ist "Funktionstherapie" auch "Rhythmotherapie": "Rhythmos" bedeutet im Griechischen soviel wie "Bewegungsordnung" - ein Begriff aus der Welt des kultischen Tanzes der religiöse Feier und Demonstration tiefer Lebensweisheit zugleich war wie uns Jost Trier in seinen subtilen Untersuchungen gezeigt hat. Eines ist sicher unmöglich: Das Rad der Entwicklung rückwärtsdrehen zu wollen. Aber nicht nur Rückwärtsgang wäre gefährlich: auch der Fortschritt birgt Gefahren die es zu erkennen und denen es zu begegnen gilt. Das "Wie" dieser Begegnung erscheint vielen heute noch als ein begriffliches Wolkenkuckucksheim angesichts des bedrohlichen Ausmaßes der Pathogenität unserer Umwelt. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges aber ist in allen Ländern der Erde ein massives sprunghaftes Anwachsen der Physiotherapie zu verzeichnen - in der Praxis ebenso wie in der Forschung. Das markiert die wachsende Erkenntnis der Bedeutung einer Therapieform die im Zeit- alter der chemisch-pharmazeutischen Industrie und der physikalisch-technischen Medizin unterzugehen drohte. Die alte Rousseau'sche Devise "zurück zur Natur" darf nicht romantisch mißverstanden sondern muß für uns Heutige mit einem neuen sinnvollen Inhalt erfüllt werden und mit einem neuen sinnvollen Inhalt erfüllt werden und Gefügeordnungen des Menschen". Es lag mir daran ein Konzept der Physiotherapie an den pathologischen Merkmalen unserer Gegenwart zu orientieren einer Therapie die als Teilstück einer Ganzheitstherapie mit gleichen Pflichten und Rechten wie jede andere Therapie aufzufassen ist die mir aber doch den Vorteil zu haben scheint ohne schädliche belastende Nebenwirkungen daher risikoarm leicht anwendbar zu sein und prinzipiell eine auf die Gesundheitssituation des Gegenwartsmenschen mit seiner physischen Unterforderung und psychischen Überforderung zugeschnittenen Spezialität zu besitzen. Deren Gediegenheit im Vergleich mit allen anderen Therapieformen zu erweisen ist daher ein dringendes Anliegen der Medizin unserer Gegenwart deren prophylaktische und rehabilitative Aufgaben angesichts der immer fortschreitenden Technisierung und Szientifizierung unseres menschlichen Lebens groß genug sind. Sie folgt als Therapie der nützlichen und sinnvollen Belastung einer Therapie der Entlastung und ist damit echte Hygiogenese auf dem gleichen Feld auf dem diese Faktoren Entlastung und Belastung die Pathogenese bestimmten. Literatur 1. Büchner F.: Münch. Med. Wschr. 99 637 (1957). 2. Halberg F.: VII. Conf. Int. Soc. p. 1.stud. d. ritmi Biologici Siena 1960. 3. Hoff F.: Verh. Dtsch. Ges. Inn. Med. 67 473 (1961). 4. Jores A. und H. Nowakowsky: Verh. Dtsch. Ges. Inn. Med. 67 498 (1961). 5. Jordan H.: Cardiologie X 136 (1961). 6. Kimmig J.: Verh. Dtsch. Ges. Inn. Med. 67 486 (1961). 7. Martini P.: Verh. Dtsch. Ges. Inn. Med. 67 453 (1961). 8. Menzel W.: Menschliche Tag-Nacht-Rhythmik und Schichtarbeit B. Schwabe u. Co. Basel-Stuttgart 1962. 9. Meusert W.: Med. Welt 20 849 (1951). 10. Meythaler F.: Verh. Dtsch. Ges. Inn. Med. 67 505 (1961). 11. Müller J.: Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung. Bonn 1926. 12. Pflanz M. und Th. v. Uexküll: Klin. 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