Komplementaristische Aspekte der Therapie - FESTVORTRAG |
Journal/Book: Z. Phys. Med. Baln. Med. Klim. 17 (1988) 261-265. 1988;
Abstract: Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster (Direktor: OMR Prof. Dr. med. habil. H. Jordan) Ich gehe sicherlich nicht fehl in der Annahme daß die etwas ungewöhnliche Fassung meines Themas heute einer gewissen Erläuterung bedarf was den Ausdruck "komplementaristisch" angeht. Warum nicht einfach "komplementär" ein Wort das viel geläufiger ist?" Komplementär" nennen wir gewöhnlich Begriffe oder Sachverhalte die sich einander in bestimmtem Sinne ergänzen oder komplettieren wie dies beispielsweise die Bezeichnung "Komplementwinkel" - die gedachte Ergänzung eines Winkels zum rechten Winkel - oder der Begriff "Komplementärfarbe" - die Ergänzung einer gegebenen Farbe zum reinen Weiß - zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz zu "komplementär" soll nun das vom Substantiv "Komplemantarität" abgeleitete Wort "komplementaristisch" zum Ausdruck bringen daß ich mich mit dieser Bezeichnung auf den Komplementaritätsbegriff beziehen will wie ihn der dänische Physiker und Nobelpreisträger Niels BOHR entwickelt und geprägt hat (BOHR 1931). Eine solche deutliche Unterscheidung der beiden Worte ist nicht nur zweckmäßig sondern strikt geboten weil "komplementär" nur eine Ergänzungsmöglichkeit quasi ad libitum komplementaristisch jedoch im BOHRschen Sinn eine Ergänzungsnotwendigkeit darstellt. Es ist mir heute und hier nun nicht möglich auf die mikrophysikalische einerseits und die erkenntnistheoretische Problematik dieses BOHRschen Begriffes andererseits in extenso einzugehen; ich muß mich in beiden Aspekten auf das Äußerste dessen beschränken das zum Verständnis meines Anliegens unabdingbar erscheint. Zu Lebzeiten BOHRs um die 20er Jahre unseres Jahrhunderts stand die Mikrophysik - ich nenne hierbei stellvertretend nur die Namen Max PLANCK Werner HEISENSERG Arthur SOMMERFELD Erwin SCHROEDINGER Max BORN und Louis de BROGLIE - vor dem Problem daß die bisher gewohnte Beschreibbarkeit und damit die unmittelbare Anschaulichkeit der physikalischen Vorgänge in den Kategorien Raum und Zeit nicht mehr gegeben war. Es hatte sich als zwingend herausgestellt daß das Atom sowohl als ein System korpuskulärer Elemente - im einfachsten Falle Atomkern und Elektronen- aber zugleich auch als ein System von Feldern oder Wellenerscheinungen aufgefaßt werden konnte oder mußte. Die atomare Welt besaß also offenbar zwei nach klassischen Definitionen einander völlig entgegengesetzte und sich ausschließende elementare Zustände die einzeln exakt meßbar zusammen entweder überhaupt nicht oder nur mit jeweils reziproker Verhältnismäßigkeit erfaßt werden konnten. So war es beispielsweise genau möglich den Ort eines Mikroteilchens zu bestimmen nicht aber zugleich dessen genaue Geschwindigkeit. Das Problem ist unter dem - allerdings sehr grob vereinfachenden - Schlagwort vom "Welle-Korpuskel-Dualismus" bzw. des "Unschärfeprinzips" (HEISENBERG 1941) in die Literatur eingegangen. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser Entdeckungen waren von bestürzender Vehemenz und Durchschlagskraft; nicht nur im Lager der Physiker selbst. Man hatte sehr bald erkannt daß - übergreifend gedacht - eine genaue Beschreibung der Individualität eines Teiles innerhalb der Ganzheit eines Systems nur mit einem bestimmten Verzicht auf die Existenz seiner Wechselwirkungen erkauft werden kann. Gestützt auf die experimentellen Vorstellungen von de BROGLIE/1943 über die Individualität der Elementarteilchen und deren Wechselwirkungen zum atomaren Ganzen prägte BOHR in tiefschürfenden Überlegungen seinen Komplementaritätsbegriff. Er erkannte in der Komplementarität ein grundlegendes Phänomen des Lebens - er drückte es so aus: wir Menschen seien Mitspieler und Zuschauer zugleich im großen Drama des Lebens (BOHR 1930). Für ihn stand die Reziprozität komplementaristischer Phänomene im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Sehr klar und wünschenswert allgemeinverständlich hat Werner HEISENBERG in seinem Buch "Der Teil und das Ganze" (HEISENBERG 1969) die Zusammenhänge von Individualität - sprich: der exakten Beschreibbarkeit des Teils und der Ganzheit - sprich: der vollen Berücksichtigung aller ihrer Wechselwirkungen - dargestellt: "In der klassischen Physik bestimmt das Verhalten der Teile das Verhalten des Ganzen - in der Mikrophysik (= Teilchenphysik) bestimmt das Ganze das Verhalten der Teile". G. KROPP formulierte: "Komplementarität ist die Eigenschaft einer Ganzheit die durch Analyse der Wechselwirkungen ihrer Teile notwendigerweise zerstört werden muß (KROPP 1951). MEYER-ABICH drückte es so aus: "Komplementarität ist eine Beziehung nicht zwischen Tatsachen sondern zwischen Möglichkeiten"; von einer Ganzheit könne keine andere als eine komplementäre (d. h. komplementaristische) Aussage gemacht werden (MEYER-ABICH 1965). BUCHHEIM/Freiberg hat im Ergebnis einer interdisziplinär angelegten Studie der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (BUCHHEIM 1983) eine "neue verbal gefaßte überdisziplinär verwendbare Definition" des Komplementaritätsbegriffes vorgeschlagen die diesen Begriff "im erweiterten Sinne zu verwenden bzw. heuristisch zu überprüfen" erlaubt (s. dazu auch JORDAN 1983). Niels BOHR hat - fast auf den Tag genau vor 41 Jahren. am 17.10.1947 - die höchste Auszeichnung seines Landes den dänischen Elefantenorden erhalten dessen Träger ein eigenes Hauswappen führen dürfen. Dafür wählte BOHR die lateinische Sentenz: "Contraria sunt Complementa" verbunden mit dem Symbol des Yin-Yang-Zeichens der chinesischen Philosophie (ROZENTAL 1967). Er vertiefte somit die alte Weisheit des Nicolaus von Cues von der "coincidentia oppositorum" und fundierte sie nunmehr auch naturwissenschaftlich (HOFFMANN 1940). Wir können vorerst zusammenfassend sagen daß der komplementaristische Aspekt der Therapie dem Aspekt einer ärztlichen Behandlungsform entspricht die sich an die Ganzheit des Menschen wendet. Der komplementaristische Aspekt läßt uns auch schärfere Konturen naturwissenschaftlicher Prägnanz und Fundierung für den bisher doch wohl mitunter reichlich verschwommenen Begriff der "Ganzheitstherapie" (JORDAN 1982) gewinnen. Ohne Abb. 1: Das "Hauswappen" N. BOHRs (aus: S. ROZENTAL: Niels BOHR. His Life and Work as seen by his Friends and Colleagues. North-Holland Publ. Comp. Amsterdam 1967 304-305/29/) Gewiß hat der Anspruch einer "Ganzheitstherapie" zunächst einen utopischen Anstrich - wer kann wer soll ihn - und wie? - verwirklichen? Daß aber eine ganzheitlich orientierte ärztliche Behandlungsweise die vornehmlichste Zielstellung eines Arztes bleiben muß das haben wohl tiefer denkende Mediziner aller Zeiten empfunden. Allerdings ist hierfür nicht nur die gediegene Kenntnis medizinischen Wissens der medizinischen erforderlich sondern ein bestimmter Grad von griechische Arztkunst feinsinnig zu unterscheiden wußte!). Ich erinnere dazu an die Differenzierung des südwestdeutschen Geschichtsphilosophen des Neokantianers Wilhelm WINDELBAND 1849 (WINDELBAND 1915) in eine "nomothetische" und "idiographische" Kennzeichnungsweise wissenschaftlicher Sachverhalte. Die "nomothetische" Kennzeichnung stellt das Allgemeine das reproduzierbar Gesetzmäßige heraus und ist gekennzeichnet durch möglichst scharfe Definition minimaler Streubreite. Die "idiographische" Beschreibung will das Einmalige unwiederholbar Individuelle das Besondere hervorheben und ist gekennzeichnet durch möglichst breite Deutbarkeit und eigenschöpferische Interpretation. Wiederum unverkennbar tritt uns hier ein Komplementaritätsphänomen entgegen; wir könnten einfach sagen daß wir als Ärzte sowohl eine "semantische" als auch eine "ikonographische" Anschaulichkeit benötigen wann wir von der Ganzheit des Kranken sprechen wollen. Wir können das eine oder das andere stärker herausstellen aber nicht auf eines von beiden verzichten. Damit löst sich der Scheinwiderspruch zwischen einer "wissenschaftlichen Medizin" und einer "Wissenschaft vom Kranken"; beide ergänzen sich unabdingbar. Weder Praxis noch Lehre noch Forschung kommen ohne diese Komplementaritätserkenntnis aus. Arzt-Sein verlangt nicht nur naturwissenschaftliches sondern auch teleologisches und heuristisches Denken; der Arzt muß so formulierte es ANSCHÜTZ 1985 an den Patienten "nicht nur eine abstrakte Krankheitsentität erkennen sondern das Individuum mit seiner Beschwerde mit seinem eigenen caritativen Grundgefühl verstehen" können (ANSCHÜTZ 1985). (ó(( und (((((((( stellen deshalb eine Art "Weisheit" dar die wir wohl auch als Weisheit im goetheschen Sinne betrachten können. Denn sind es nicht doch auch goethesche Gedanken die uns in den Konsequenzen der BOHRschen Komplementarität wiederbegegnen? Denken wir nur an die Yin-Yang-Polarität des BOHRschen Wappens und die Rolle welche der Polaritätsgedanke in Goethes gesamtem Denkbereich spielt: wie wunderbar deutet er das Zusammenspiel des Ein- und Ausatmens von Systole und Diastole überhaupt aus wie ist seine Metamorphosenlehre ist seine Naturphilosophie wesentlich auf das Polaritätskonzept eingestimmt wie weit zieht er diesen Bogen sogar in der Kennzeichnung des Charakters der beiden Tongeschlechter Dur und Moll (JORDAN 1982)! Sich aber Goethe zu nähern verlangt - so drückt es sein geistvoller Interpret Adolf MUSCHG einmal aus die "empfindliche Weisheit vor der unempfindlichen Wissenschaft zu schützen" (MUSCHG 1982). Wie sehr lockt die räumliche und vor allem geistige Nähe Frankfurts uns doch dazu diese Parallelen weiter zu verfolgen! Komplementaristisch denken bedeutet ja sich prinzipiell der Tatsache bewußt zu sein daß es kognitiv neben einer Entscheidung im Sinne von "Entweder Oder" die gleichberechtigte und gleichwertige Entscheidung im Sinn des "Sowohl-Als-Auch" geben muß und daß solche Entscheidungen einen reziproken Charakter tragen müssen etwa: je brauchbarer das eine ist um so falscher muß das andere sein. Komplementaristisch denken heißt aber weiterhin auch verstanden zu haben daß das "wissenschaftliche Gesetz im klassischen Sinne" neu Überdacht d. h. im Sinne seines "Wahrscheinlichkeitscharakters" im Grunde also relativisiert werden muß. Relativistisches Denken ist ohne eine bewußte oder stillschweigend vollzogene Akzeptanz des Komplementaritätsgedankens gar nicht möglich. Dessen wichtigste Forderung ist aber eben mit der Suche nach Ergänzungsmöglichkeiten nicht erfüllt sondern zwingt zum Nachweis der Ergänzungsnotwendigkeit! Wir gehen ja bereits dann von einer komplementaristischen Grundvorstellung aus wenn wir jede Therapie unter allen Umständen als eine Nötigung zur "Konzeption einer überlegten therapeutischen "Strategie" begreifen. Therapeutische Strategie bedeutet und bezweckt stets in einer sukzessiven simultanen oder zumindest quasi-simultanen Abfolge ein sinnvolles Arrangement aller zur Heilung einer vorliegenden Krankheit notwendigen therapeutischen Mittel zustande zu bringen. "Therapeutische Strategie" bedeutet daher immer eine Kombination von Therapiemitteln als einer wie auch immer gestalteten "Kombinationstherapie" deren Kompartimente natürlich dynamisch und kinetisch als wirksam bekannt und erprobt sein müssen. In einem solchen Sinn verstanden erübrigt es sich auch von "Alternativtherapien' zu sprechen. Nach alter ärztlicher Weisheit sind im Rahmen einer Therapiekonzeption immer diejenigen Mittel einzusetzen die der Grundforderung des "tuto cito et jucunde" entsprechen also: die Mittel welche am schnellsten am sichersten und am schonendsten oder auf die dem Kranken am wenigsten belästigende Art und Weise wirken können. Und eine derartige Entscheidung ist erst dann richtig zu fällen wenn alle therapeutischen Elemente die insgesamt zur Verfügung stehen in das strategische Konzept eingebracht worden sind. Das komplementaristische Grundkonzept verlangt aber weiterhin etwas Entscheidendes: Das gewählte therapeutische Arrangement muß so beschaffen sein daß sowohl die "pathische" als auch die "zeitliche Ganzheit" des Krank-Seins in einer Art Ringschluß berücksichtigt werden kann. Unter "pathischer Ganzheit" wird hierbei die Gesamtheit der krankheitsbedingten pathophysiologischen Abläufe verstanden; die "zeitliche Ganzheit" bezieht sich auf die Zeitstruktur aller dieser Prozesse im Idealfall bis zur Heilung. Die "pathische Ganzheit" muß so verstanden auch alles das einschließen was zur sogenannten sekundären Prävention zu rechnen ist denn zahlreiche Therapieformen beispielsweise solche der Physiotherapie sind Therapiemittel und Sekundärpräventive zugleich oder können es zumindest sein. Wir sind es der Rationalität unseres ärztlichen Handelns schuldig immer dann wo es überhaupt möglich ist mit der Therapie zugleich sekundäre Prävention zu betreiben. Als Beispiel führe ich dazu die kardiologische Physiotherapie an. Natürlich sind pathische Ganzheit und zeitliche Ganzheit der Therapiegestaltung aufs engste verknüpft. Eine richtigverstandene "Chronotherapie" kann sich nicht - wenn auch zunächst vordergründig so scheinend - darin erschöpfen die Zeitdauer der einzelnen taktischen Elemente der Therapie selbst festzulegen sondern muß auch deren Einfügung in den strategischen Gesamtablauf überdenken. Je mehr Zeit eine Therapieform benötigt - und "Therapieform" umfaßt immer Reiz und Reaktion zugleich - um so weniger darf diese Behandlung die Gefahr von Nebenwirkungen in sich bergen; umgekehrt ausgedrückt je weniger eine "therapeutische Belastung Risiken oder Nebenwirkungen erwarten läßt um so eher kann sie für ein mittel- oder längerfristige Therapieplanung als geeignet einkalkuliert werden. Jede Therapie verlangt eine entsprechende Reaktion vom Kranken die er erbringen können muß. Der "Zeitbedarf" einer Therapie ist also nicht nur planbar im Hinblick auf die Minuten der Anwendung sondern - viel wichtiger! - auf die Zeitdauer der Reaktion des Patienten auf die Therapiemaßnahme eine Planung die zumeist gar nicht oder nur höchst ungenügend realisiert werden kann. Wenn wir als selbstverständlich fordern von einem Therapiemittel wie wir das vom "Pharmakon" gewohnt sind dessen spezielle Kinetik und Dynamik kennen zu sollen dann müssen wir das auch für die Physiotherapiemittel in Anspruch nehmen die wir folgerichtig dann vielleicht als "Physikon" titulieren sollten?! Was aber wissen wir denn exakt von der Kinetik oder Dynamik einer Massage beurteilt an den Kriterien von Zeit und von psychosomatischem Umfang in Zahlen faß- und meßbar? Denn dann wäre ja die Forderung nach wirkungsphysiologischer und chronotherapeutischer Optimierung möglich und erfolgversprechend. Wie ärmlich und simpel nimmt sich angesichts der Maßstäbe der Chronotherapie das übliche "3mal täglich . . ." der üblichen ärztlichen Verordnungsweise aus gegen dessen "Stumpfsinn" (so wörtlich!) der Altmeister der Chronotherapie Arthur JORES schon 1935 zu Felde zog! (JORES 1935). Der Zeitbedarf einer Therapieform wird besonders deutlich an der Problematik der Bettruhe nach akuten Krankheitsereignissen nach Operationen! Wir sprechen zwar hierbei üblicherweise noch nicht von eigentlichen "Therapieschäden" sondern nur von "hinderlichen Begleitumständen" der Therapie die in den echten "Therapieschaden" natürlich ohne weiteres übergehen können. Der vielleicht wichtigste komplementaristische Aspekt der Therapie ist darin gegeben daß jede ärztliche Handlung (nicht nur: "Be-handlung" !) eine somatotrope und psychotrope Simultaneität besitzt ob sie nun gezielt oder ungezielt erfolgt. Das Wort von der "Droge Arzt" ist altbekannt; daß es aber auch die "Droge Patient" für den Arzt gibt ist uns durch die Forschungen Manfred BUBERs (BUBER 1973) Gewißheit geworden. Es besteht demnach eine echte Wechselwirkung von Nehmen und Geben zwischen Arzt und Kranken - auch sie muß zum komplementaristischen Konzept gerechnet werden. Derartige Erörterungen berühren das "jucunde" der oben erwähnten Trias - oft wohl werden sie zu selten angestellt ebensooft wird es aber auch unvermeidbar sein gegen sie zu verstoßen! Von alters her bestand doch die "Treffkunst des Arztes" wie es die Antike verstand (HERTER 1963) darin diese unaufhörliche Wechselwirkung von Psyche und Physis bei der Begegnung von Arzt und Patient zu kennen und richtig einzuschätzen. "Das Schisma der Medizin ihr Zerfall in eine psychische und somatische Grundhaltung ist theoretisch überwunden" erklärte im Jahre 1979 Hans SCHÄFER (SCHÄFER 1979); dieser Zerfall muß aber auch praktisch überwunden werden - und zwar bei jeder ärztlichen Entscheidung aufs neue. Gerade wenn wir die Trinität des tuto cito et jucunde ernst nehmen stellen sich hier beispielsweise für den operativen Eingriff sicherlich oft schwerwiegende Fragen. Der Kranke will nicht eine er will seine Therapie will daß ein personaler Akzent in der Behandlung sicht- und spürbar wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt der zu bedenken ist betrifft die Komplementarität zwischen den Kategorien "Funktion" und "Struktur" - besonders gilt dies für die Fragestellung der Therapie. "Funktionelle Therapie" ist eine geläufige Formel - man sollte präziser sogleich von "funktionsübender" und "funktionserhaltender" Therapie sprechen. Das dialektische Verhältnis von Struktur und Funktion ist schon lange erkannt worden; als erster hat wohl der Entwicklungsphysiologe Wilhelm ROUX in Halle - natürlich ohne von Dialektik zu sprechen - auf diese Zusammenhänge hingewiesen und herausgestellt daß eine Optimierung der Funktion zugleich eine Optimierung des strukturellen Gefüges bedeutet daß andererseits nur intakte Strukturen optimale Funktionen gestatten. Dabei arbeitet der menschliche Organismus immer nach dem Prinzip mit einem minimalen Aufwand an Struktur ein Optimum an Funktion zu erreichen und umgekehrt (ROUX 1905). Die Quasiidentität von Struktur und Funktion gibt der funktionellen Therapie ihre eigentliche besondere Note - wir müssen uns nur im gleichen Zuge fragen inwieweit auch beispielsweise die pharmakologische Therapie als "funktionelle" Therapie zu begreifen ist. Das dialektische Verhältnis beruht darin daß weder die These "Struktur" noch die Antithese "Funktion" sondern nur deren dialektische Verknüpfung "Leistung" den eigentlichen Sinn ergibt: Das Organ d. h. die strukturierte Form kann letztlich nur als eine "langsame Funktion" verstanden werden wie das L. v. BERTAL-ANFFY bezeichnete (BERTALANFFY v. 1942). Nur so ist die Gesamtheit der Lebenserscheinungen in ihrem ständigen Vollzug zu verstehen die V. v. WEIZSÄCKER (1942) als eine Kreisgestalt mit proleptischem Grundcharakter voll verstanden hat. "Proleptisch" also wörtlich "vorwegnehmend" dürfen wir modern vielleicht damit verdeutlichen daß eine solche "Prolepsis" im lebenden Organismus durch eine Koppelung von "feedforward"- und "feedback"-Systemen erreicht werden kann (ROSEN 1974) Feedforward-Systeme benötigen - im Gegensatz zu den Feedback-Mechanismen - keine "Rückmeldezeiten" und sind insofern zeitökonomisch und daher prinzipiell ein beachtlicher Vorteil für den bionomen Ablauf im Organismus (s. dazu auch JORDAN 1984). Alle Eingriffe in die Bionomie des Organismus - und die Therapie ist ein solcher Eingriff! - bedeuten für das regulative Netzwerk "input"-Vektoren die sodann in einen "output"-Vektor transformiert werden und die in ihrer Gesamtheit die "Reaktion des Organismus" darstellen: das ist praktisch Reiz und Reizbeantwortung. Krankheit muß wohl als eine Störung des Gleichgewichtes zwischen Funktion und Struktur in deren raumzeitlicher Korrespondenz aufgefaßt werden - G. v. BERGMANN erklärte die "Strukturstörung als die morphologische Epikrise einer Betriebsstörung" (BERGMANN v. 1938). In einem solchen Sinne führt unser Fachgebiet in der DDR die offizielle Bezeichnung "Physiotherapie"; ganz im Geiste des Jenenser Internisten und Altmeisters der Physikalischen Medizin J. GROBER zu dessen 100. Geburtstag ich mich im Jahre 1975 in einer Gegenüberstellung der beiden Begriffe "Physiotherapie" und "Physikalische Therapie" geäußert habe (JORDAN 1975). Allerdings meine ich daß das letzte Verständnis dafür eben erst im komplementaristischen Aspekt (und keinesfalls unter dem Blickwinkel einer bloßen "alternativen" Therapie!) erreicht werden kann. Die bewußte Inanspruchnahme körpereigener Leistungen als Therapie deckt sich wohl im wesentlichen mit dem was W. BREDNOW in seinem Eröffnungsvortrag anläßlich des 63. Kongresses der Internisten im Jahr 1957 als die "bewußte Integration der personalen Tendenz zum Heilen" gemeint hat mit dem Ziel des "Wieder-Ein-Ganzes-Sein-Können" (BREDNOW 1957) und es entspricht wohl auch der Vorstellung dessen was HILDEBRANDT mit seinem Begriff einer "therapeutischen Physiologie" im Auge hat (HILDEBRANDT 1985). Funktionelle Therapie stellt sich bekanntlich in zwei Formen dar: eine die dem Prinzip der Entlastung und eine die dem Prinzip der Belastung entspricht - in welcher Art und Weise diese beiden Kategorien auch immer realisiert werden mögen. Nicht nur die Physiotherapie sondern jede Art von Therapie kann nach solchen Kriterien jeweils eingestuft werden (JORDAN 1967). Dieses Begriffspaar ist wiederum ein dialektisches oder komplementaristisches Begriffspaar - Entlastung ist nicht nur Voraussetzung sondern auch notwendige Folge der Belastung bedeutet sowohl "Baufreiheit für die Belastung" als auch "Zwangsstopp für die Belastung". Die hierin liegenden Möglichkeiten einer therapiestrategischen Konzeption scheinen mir bei weitem noch nicht ausgeschöpft zu sein. Da Belastung oft mit "aktiver" Therapie gleichgesetzt Entlastung meist als "passive" Therapie mißverstanden wird haben wir den Begriff der "quietiven" Therapie für zweckmäßig erachtet der Therapieformen kennzeichnen soll die unter äußerer Körperruhe ablaufen aber doch eine wesentliche Funktionsförderung hervorrufen - als Beispiel möchte ich hierfür die kardiozirkulatorische Effektivität der Kohlensäurebädertherapie nennen (s. dazu JORDAN 1988). Je besser nun die Möglichkeiten der Physiotherapie als einer risikoarmen zugleich aber funktionsfördernden integrativ wirksamen Behandlungsform für die Förderung der personalen Kräfte und Fähigkeiten des kranken Organismus nutzbar gemacht werden können um so stärker ist deren Einsatz zu fordern um so entbehrlicher sind andere nichtphysiotherapeutische Behandlungsverfahren. Hierin tritt die Reziprozität unseres komplementaristischen Konzeptes recht klar zutage. Verehrte Zuhörer Sie werden sich vielleicht schon gefragt haben warum ich gerade auf Ihrem Kongreß diese Problematik der Komplementarität angesprochen habe. Zwei Erwägungen haben mich dazu veranlaßt: Es sollte klargestellt werden daß erstens ein therapiestrategisches Konzept ohne Einbeziehung physiotherapeutischer Behandlungsformen sowohl in pathischer wie in zeitlicher Hinsicht ein unvollständiges Konzept bleiben muß und daß sich zweitens daraus ein erhöhtes Selbstverständnis für die Physiotherapie selbst ergibt; nämlich dies daß ein nur komplementäres alternatives also eine Ergänzungsmöglichkeit darstellendes Physiotherapiekonzept nicht genügen kann sondern durch ein komplementaristisches eine Ergänzungsnotwendigkeit darstellendes Prinzip ersetzt werden muß. Dieser Anspruch geht sogar so weit daß man sich primär zu fragen hat ob und wieweit die physiotherapeutischen Mittel allein ausreichen oder inwieweit andere Therapieverfahren notwendig sind. Die drei Vokabeln tuto cito et jucunde können dabei die entscheidende Grundlage abgeben. Meine Damen meine Herren ich danke Ihnen für die geduldige Aufmerksamkeit die Sie meinen Ausführungen geschenkt haben. Ich durfte sie vor einem Forum zu Gehör bringen von dem eine besondere Verständnisbereitschaft zu erwarten war denn der Arzt der Physiotherapie betreibt besonders der der sie in einem Kurort betreiben kann ist ja von vornherein gewillt und fühlt sich verpflichtet die Ganzheit des kranken Menschen während der Kurdurchführung verstehend zu erleben. Die Balneobioklimatologie ist sicherlich eine Therapieform vor der man gegenwärtig noch am ehesten das epitheton ornans "Ganzheitstherapie" vertreten kann. Das veränderte biophysikalische und biosoziale Umfeld eines Kurortes bietet dazu wirksame Möglichkeiten die ärztlich zu führen eine lohnende Lebensaufgabe sein kann. Literatur 1 Anschütz F.: Naturwissenschaftliches Denken und ärztliches Handeln. Verh. Dtsch. Ges. Inn. Med. 91. Kongr. S. XVII-XXVIII (Zitat: S. XXV). J. F. Bermann München 1985 2 Bergmann G. v.: Funktionelle Pathologie. Springer Berlin 1938 3 Bertalanffy L. v.: Theoretische Biologie. Bd.1 u. 2. Borntraeger Berlin 1942 4 Bohr N.: Atomtheorie und Naturbeschreibung. Vier Aufsätze mit einer einleitenden Überschrift. J. Springer Berlin 1931 5 Bohr N.: Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung. Naturwissenschaften 18: 4 73-78 (1930) 6 Brednow W.: Festrede zum 75. Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. In: Verh. Dtsch. Ges. Inn. Med. 63. Kongr. 1957. J. F. Bergmann München 1957 7 Broglie L. de: Die Elementarteilchen. Individualität und Wechselwirkung. H. 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