Die Kurorttherapie unter geriatrischem Aspekt |
Journal/Book: unveröffentl. Abano Montegrotto (Padua) 15.-17.06.1983. 1983;
Abstract: Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster (Direktor: OMR Prof. Dr. med. habil. H. Jordan) Die Physiotherapie muß sich im besonderen Maße mit der Reaktivität des alternden Menschen d. h. mit dem funktionellen Sektor des geropathologischen Geschehens auseinandersetzen und dabei drei Fragestellungen bedenken: 1. Inwieweit vermag die Physiotherapie den physiologischen Alternsvorgang prophylaktisch und therapeutisch zu beeinflussen (biomorphotischer Aspekt) 2. Inwieweit muß die Physiotherapie dem Alternsprozeß im Behandlungsregime allgemein Rechnung tragen (reaktionspathologischer Aspekt) 3. Inwieweit ist die Physiotherapie geeignet Alterskrankheiten zu beeinflussen (geropathologischer Aspekt). Eine "geriatrische Balneo- resp. Kurorttherapie" im eigentlichen Sinne ist bisher noch nicht ausreichend konzipiert worden. Ursache dafür ist wohl das Fehlen gesicherter Tatbestände. So ist für das Studium der Kurreaktionen und Kureffekte von uns schon frühzeitig die Berücksichtigung des Alters der Kurpatienten als eine der wichtigsten "interindividuellen Varianten" erkannt und insbesondere auch in die biometrische Bearbeitung der Beobachtungsergebnisse einbezogen worden. Aus den Ergebnissen der EDV des Kur- und Bäderwesens der DDR läßt sich die Alterssituation unserer derzeitigen Kurpatienten leicht ablesen. Im 5. Dezennium steigt die Zahl der Heilkuren an wobei Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems der Atemwege und des Bewegungsapparates z. B. gegenüber gastroenterologischen Indikationen bei Männern und bei Frauen (letztere liegen etwa ein Jahrfünft vorher im Maximum) einen deutlichen Häufigkeitszuwachs aufweisen. Das unterstreicht wohl die Bedeutung dieser Krankheitsabläufe als Ausdruck des geropathologischen Prozesses zeigt aber auch daß für die Kurverschickung das Problem der inveterierten Krankheitsprozesse von Bedeutung ist. Bei der altersdifferenzierten Betrachtung einzelner Krankheitsgruppen getrennt nach Männern und Frauen läßt sich erkennen daß sich die Häufigkeit der Einweisungsdiagnosen innerhalb der einzelnen Krankheitsgruppen mit zunehmendem Alter Verändert. Am markantesten tritt dies für Krankheiten des Kreislaufsystems und Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes in Erscheinung (Zunahme mit dem Alter) während z. B. Krankheiten des Atmungssystems sozusagen einen sinusförmigen Verlauf der Häufigkeit in Abhängigkeit vom Lebensalter erkennen lassen. Eine ständig abnehmende Tendenz weisen die Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane aus. Eine Untergliederung dieses Materials der Kreislauferkrankungen bzw. der Erkrankungen des Muskel-Skelettsystems und des Bindegewebes macht deutlich daß sich die einzelnen Krankheiten im Alternsgang der Kurdiagnosenhäufigkeit verschieben so z. B. die rheumatoide Arthritis die Arthrosen oder die subakute ischämische Herzkrankheit und die Gruppe der Vitien. Insgesamt waren nach diesem Material rund 8 5 % aller Kurpatienten (12 0 % männl. 5 0 % weibl. ) über 65 Jahre alt; in der Altersklasse 50 - 65 Jahre finden sich z. B. 3mal soviel Männer wie Frauen die wegen Kreislauferkrankungen zur Kur kommen. Das Häufigkeitsmaximum der Kurpatienten liegt in der Mitte des 5. Dezenniums. Deutliche altersabhängige Reaktionsverläufe finden beim Übergang vom Heimatort in den Kurort statt. Beim Übergang vom Heimatort in den Kurort reagiert der ältere Kurpatient mit hypotoner Ausgangslage des Blutdruckes deutlicher im Sinne einer Erhöhung als der jüngere; ältere Kranke mit hypotoner Ausgangslage werden dagegen durch die Kurorttherapie stärker im Sinne einer Senkung beeinflußt als jüngere. Auch für die Pulsfrequenz und das Körpergewicht gelten ähnliche Gesetzmäßigkeiten. Altersunterschiede in der Reaktivität der Kurpatienten lassen sich auch sonst finden; z. B. eine abgeschwächte Reaktion des alten Menschen auf die Änderung des rheoenzephalographisch ermittelten relativen Pulsvolumens und der relativen Gipfelzeit durch die Effekte des hydrostatischen Druckes und/oder der aus dem Wannenbad resorbierten Kohlensäure Änderungen der Anspannungszeit des Herzens unter Einwirkung von Kohlensäurebädern oder der Ausfall des Histamin-Erythemtestes als Reaktionstest für Kurreaktionsphasen demzufolge ältere Menschen weniger intensiv auf balneotherapeutische Reizeffekte reagieren. An einer großen Untersuchungsreihe von insgesamt 8993 Kurpatienten konnten wir ermitteln daß die ärztlich objektivierten "Kurreaktionen" bei degenerativen Erkrankungen (Myodegeneratio cordis und ischämische Herzkrankheit sowie degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparates) im Alter zunehmen die der funktionellen Erkrankungen (funktionelle Angina pectoris vegetative oder neurozirkulatorische Störungen) dagegen abnehmen. Entgegengesetzt verhält sich dazu die "fehlende" Kurreaktion. Gerade dieses Ergebnis zeigt daß die "Reaktionsgüte" die an Einzelfunktionen unter einem therapeutischen Regime beobachtet wird nicht gleichzusetzen ist mit dem Ergebnis der Therapie als Ganzes. Jedenfalls scheinen nach unseren Untersuchungen gerade die alten Menschen besonders auch auf die Alterserkrankungen anzusprechen. Das Kurresultat liegt bei ihnen aber gegenüber jüngeren Menschen erst als relativer Späteffekt als Kurerfolg im eigentlichen Sinne vor. Alle altersbedingten Unterschiede die aus unserer Sicht bei der Durchführung von Kuren beobachtet wurden sind unter diesem Blickwinkel zu sehen. Es ist nicht abwegig jene reaktive Trägheit auch positiv als "relative Stabilität" gegenüber den Auslenkfaktoren zu bewerten. Hinsichtlich einzelner Therapiefaktoren sind immer wieder altersdifferente Reaktionsweisen beschrieben worden so z. B. für Kaltreize (Kneipptherapie) für die alte Menschen eine gewisse "Regulationsstarre" (geringere periphere Vasokonstriktion derzufolge raschere akrale Wiedererwärmung) und ein gegenüber jüngeren Menschen umgekehrtes Verhalten der Kreislaufregulation (= vermehrte Herzarbeit) aufweisen. Dagegen konnte im Peloid (="Moor"-)bad keine stärkere Kreislaufgefährdung alter Menschen festgestellt werden. CO2-Gasbäder lassen gegenüber CO2-Wasserbädern eine günstigere Kreislaufwirkung im Greisenalter erkennen. Warme Bäder sind allgemein kreislaufbelastender als kühle. Wichtiges Glied in der Kette der kurorttherapeutischen Maßnahmen im Hinblick auf das Altern ist die Bewegungstherapie da sich Trainingseffekte als weitgehend unabhängig vom Alter erweisen vorausgesetzt daß das Training nach Art und Umfang altersadäquat aufgebaut wird. Daß eine regelmäßige Bewegungstherapie die strukturelle Alterung der Gewebe hinauszögert ist von der Theorie des Alternsvorganges her verständlich und entspricht dem gesetzmäßigen Zusammenhang von Struktur und Funktion. Die grundlegende Bedeutung der Bewegungstherapie hat schon jetzt zu einer bedeutsamen Umstellung der Kurorttherapie vom Schontypus auf den Trainingstypus geführt: der Kurort oder das ihm gleichzustellende entsprechende Sanatorium vermögen eine diesbezügliche Intensivtherapie zu betreiben die in ihren Musterformen das Sondergebiet einer "Präventiv-Kardiologie" herauskristallisiert hat. Die Kinesitherapie besonders in ihren auf Langzeitbelastung abgestimmten Formen (Terrainkuren) bildet in Verbindung mit der Kaltreizhydrotherapie einer altersangepaßten Diät der Sauna und dem autogenen Training ein wohlbewährtes Therapieregime vor dem Hintergrund der sonstigen klinischen Therapie. Im Hinblick auf die Bewegungstherapie ist die Festlegung von Leistungsgruppen (nach ergometrisch bestimmbarer Leistungsfähigkeit) eine allgemeine Forderung geworden. Selbstredend ist mit einer Kur von 4-6 Wochen keine ausreichende präventive Kardiologie gegeben. Dabei muß die Kinesi- oder Leistungstherapie durch die Sport- und Spieltherapie ergänzt und schließlich das Ganze in eine häusliche und im beruflichen Alltag verwendbare Form umgeprägt werden die letztlich über Jahre hinaus einen (möglichst sogar meßbaren) Trainingseffekt besitzt. Die klimatische Umstellung kann bereits einen sehr nützlichen Therapieeffekt für den alternden Menschen bedeutet wenngleich auch starke Klima-(Wechsel-)reize für ältere Menschen besonders Infarktgefährdete problematisch bleiben. Hier darf nicht das kalendarische sondern muß das biologische Alter die entscheidende Orientierungsebene sein. Klimatherapie läßt sich - gerade für alte Menschen - besonders günstig im Sinne der Thalassotherapie betreiben worauf schon die Altmeister der Thalassotherapie hingewiesen haben. Hingegen bietet das Hochgebirgsklima doch gewisse Gefahren. Vorwiegend vom kardiologischen Aspekt her müßten "alte Menschen" schon vom 50. Lebensjahr an als solche betrachtet werden da ein Trainingseffekt (= "Hochhalten des Sauerstoffpulses") erst im späteren Alter von besonderer Bedeutung und daher ein relativ frühzeitiger Trainingsbeginn erwünscht ist. Hierfür spricht auch die Tatsache eines durchaus nicht alterslinear verlaufenden Lipidstoffwechsels demzufolge die Gewebslipide im Alter zwar ansteigend im hohen und höchsten Alter jedoch wieder zurückgehen. Neuere Untersuchungen zielen in Richtung des Mesenchymstoffwechsels als dem wichtigsten pathophysiologischen Medium zur Genese der Gewebssklerose und seiner Beeinflussung durch physiotherapeutische Maßnahmen (Kinesitherapie Jodwässer Vanadiumwässer UV-Therapie). Auf die Therapie der oberen Luftwege (bronchitisches Syndrom Emphysem etc.) und diesbezügliche Möglichkeiten im Kurort sei nur ganz summarisch verwiesen wobei die Infektneigung älterer Menschen hervorgehoben werden muß. Zusammenfassend kann gesagt werden daß der Altersvorgang als ein für den Verlauf von Heilkuren relevanten Prozeß anzusprechen ist und daher seine Berücksichtigung für die Auswahl die Durchführung und die (ärztliche sowie biometrisch-statistische) Effektivitätsbeurteilung einer Kur verlangt. Bestimmte spezifische aber auch unspezifische Antworten des menschlichen Organismus auf das Kurregime weisen altersbedingte Unterschiede auf. Derartige Altersdifferenzen sind zudem für Männer und Frauen unterschiedlich womit ein sexualtypischer Alternseinfluß auf die therapeutischen Reize einer Kurorttherapie sichergestellt ist. Jüngere Kurpatienten reagieren deutlicher auf akute kurzfristig einwirkende Belastung (z. B. Effektivität bei Reaktionen am Beginn der Kurorttherapie) bzw. auf funktionelle Störungen ältere dagegen mehr auf degenerative Prozesse und längerfristige Reizintensitäten (z. B. Effektivität am Ende der Kurorttherapie). Dabei bestehen faßbare Unterschiede der Alternsabhängigkeit von der jeweiligen Ausgangslage der untersuchten Parameter. Insgesamt kann gesagt werden daß eine entsprechend gestaltete Kurorttherapie sowohl vom biomorphotischen als auch reaktionspathologischen und geropathologischen Aspekt aus als wertvoll und erfolgversprechend angesehen werden und mithin ihren gesicherten Platz in der Geriatrie beanspruchen kann.
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