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December 2024

Ganzheitstherapie ?

Journal/Book: Z. Physiother. 34 (1982) 15-21. 1982;

Abstract: Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster (Direktor: OMR Prof. Dr. med. habil. H. Jordan) 1Vortrag zum Wiss. Symposium anläßlich des 75jährigen Jubiläums des Lehrstuhles für Physiotherapie der Universität Berlin; Berlin 5. 12. 1980. Kaum eine andere Vokabel aus dem medizintheoretischen Sprachgebrauch dürfte so alt so undefiniert zugleich und - vielleicht gerade deshalb? - so faszinierend sein wie die welche die Überschrift meines Beitrages zum heutigen Jubiläumssymposium abgibt. Undefiniert ist sie die Ganzheitstherapie und damit fragwürdig - und so kann sie nicht ohne Fragezeichen dastehen - ihm entsprechend könnte also ein Untertitel dieser Überlegungen etwa lauten: Kritische Betrachtungen zu einem Grundkonzept der Medizin. Den Ausgangspunkt für eine solche Untersuchung könnte das Paradoxon bilden: "Ganzheitstherapie muß sein - aber sie kann nicht sein." Wenn dieser Satz ein echtes Paradoxon ist bedeutet dies daß wir weder resignierend eine solche utopisch scheinende Forderung wegwischen dürfen noch daß wir hoffen dürften sie in eine befriedigende Realität überführen zu können. Ich glaube indessen daß gerade mit dieser Grundüberlegung die Medizin unserer Tage eine erkenntnistheoretische Bewährungsprobe abzulegen hat - es kann also nicht um ein Be- sondern es muß um eine Erkenntnis gehen die wie ich meine eine absolut sichere wissenschaftliche Basis besitzt. Davon möchte ich hier sprechen. Die Begriffe "Ganzheitsmedizin" und (damit eingeschlossen) "Ganzheitstherapie" sind in den letzten Jahrzehnten mit zunehmender Artikulation und Profilbildung der psychosomatischen Medizin stark in den Vordergrund des theoretischen und praktischen Interesses der Heilkunde gerückt - sicher z.T. als Gegengewicht zu einer zu einseitig naturwissenschaftlich-technisch orientierten Medizin mit szientistischen und technokratisch-operativen Grundvorstellungen eingebettet in die existentiellen Randbedingungen einer philosophisch wie reell unausweichlichen Relativität unseres wissenschaftlichen Weltbildes und damit in den Probabilitätscharakter unseres rationalen und emotionalen Weltbezuges. Die Technik die den Menschen aus dem Schwerefeld seiner Heimaterde hinauszuheben vermochte die den Schlüssel zu deren substantiellen Vernichtung in den Händen hält hat in ihrem unaufhörlichen Rationalisierungsprozeß - im wörtlichen Sinne also der allein vom Verstand her diktierten Handhabung - auch die Medizin in die oft sehr kritische Versuchung gebracht über der technä - sie ist der Wirkungsbereich des Telespheros des jüngsten Sohnes des Asklepios in der altgriechischen Medizin der bezeichnenderweise als Schröpfkopf versinnbildlicht wird - über dieser technä also die epistemä zu vergessen d.h. das Wissen und die umfassende Kenntnis der Heilkunst wie es Asklepios selbst verkörperte. Die überwiegend somatisch orientierte Medizin suchte daher verstärkt wieder ihr notwendiges Gegengewicht die Psyche sie suchte für ihren Vollzug jenes Ganze wiederherzustellen das der Mensch ständig repräsentiert. "Ganzheitstherapie" hieß in dieser Entwicklungsphase zunächst sehr einfach daß über jeglicher somatischer Therapie die psychische Therapie nicht vergessen werden dürfte. "Ganzheitstherapie" ist also Teil einer Ganzheitsphilosophie - und von hier aus möchte ich unser vorliegendes Problem auch aufrollen. Es ist eine Binsenweisheit daß Körper und Seele in unaufhörlicher Wechselwirkung miteinander stehen. Soma und Psyche sind als Dualität mit anderen Worten als dynamische Polaritäten zu begreifen und sind als solche einer eigenen typischen. Gesetzlichkeit unterworfen. Wollten wir also eine psychophysische Ganzheitstherapie betreiben so brauchten wir eine die somatische und die psychische Situation jeweils genügend scharf kennzeichnende Diagnose. Wie weit wir prinzipiell und partiell davon entfernt sind bedarf keiner Betonung - immerhin sind wir nebenbei gesagt heute schon von dem Begriff "Dia"-gnose zu der Formulierung "Peri"-gnose übergegangen - damit dokumentierend daß beispielsweise die gesamte psychophysische d.h. die physikalische und soziale Umwelt zu einer richtigen Krankheitsbeurteilung Entscheidendes beizutragen hat. Das eigentliche Problem dieser Dualität aber liegt tiefer. Es liegt in der Meßbarkeit der zu einer psychosomatischen Diagnose gehörenden strukturellen und funktionellen Teilstücke mit anderen Worten es liegt in der "Wissenschaftlichkeit" der Diagnosestellung. Nun sind nicht nur Psyche und Soma sondern auch Struktur und Funktion Dualitäten also integrative Bestandteile eines Ganzen deren Meßbarkeit im raumzeitlich strengen Sinne unmöglich ist. Strukturen so formuliert Bertallanfy sind im Grunde langsame Funktionen. Mir klingt noch der stolze Ton im Ohr mit dem mein klinischer Lehrer vor nunmehr fast 40 Jahren den Physiologen NAUNYN zu zitieren pflegte der gesagt habe: Medizin wird Naturwissenschaft sein oder wird nicht sein. "Nun - NAUNYN ist damals nicht richtig zitiert worden; dieses vielfach so gebrauchte Wort heißt genau: "Medizin wird Wissenschaft sein oder sie wird nicht sein"[7]. "Wissenschaft" mit "Naturwissenschaft" gleichzusetzen konnte offenbar seinerzeit als Urteil eines Selbstverständnisses der Medizin gelten das der allgemein verbreiteten Tendenz unterlag nur das als wissenschaftlich vollwertig zu betrachten das Sinne der Naturwissenschaften - genauer der "exakten" Naturwissenschaften - als "gesichertes" Ergebnis gelten konnten. Der Explosivcharakter der damaligen naturwissenschaftlichen Entwicklung besonders in der Biochemie mochte die Mediziner dieser Tage hoffen lassen daß auf solchen experimentellen Wegen nun bald das Wesen der Krankheit geklärt werden können.- LASHLEY hat dies noch 1951 ausdrücklich auch für die Psychologie postuliert: "I believe that the phenomena of behavior and of mind are ultimately describable in the concepts of the mathematical and physical sciences". Mit den Begriffen "raumzeitlich exakte Meßbarkeit" "Dualität" und "Ganzheit" die bisher schon mehrfach auftauchten werden wir uns nunmehr zu erinnern haben daß vor 55 Jahren mit der Aufstellung der Quantenmechanik durch die Physiker WERNER HEISENBERG MAX BORN und ERWIN SCHROEDINGER eine Wende in der Physik genauer der Mikrophysik eingetreten war deren erkenntnistheoretischen Niederschlag ganz grob formuliert darin bestand daß es zum Verständnis der innersten Zusammenhänge der Welt nötig ist zwischen den einander sich ausschließenden Urteil "ja" und "nein" noch das Urteil "unbestimmt" (im Sinne von "nicht ja und nicht nein")logisch gleichberechtigt gelten zu lassen. Am Beispiel des Lichtes war eindeutig gezeigt worden daß dieses sowohl die Merkmale besaß die Korpuskeln eigen sind als auch Eigenschaften die einer Wellennatur entsprach - das Licht zeigt den "Korpuskel-Welle-Dualismus". Des weiteren hatte HEISENBERG erweisen können daß in bestimmten Bereichen der Mikrophysik der Meßvorgang das Meßobjekt und die Meßgröße selbst prinzipiell stört so daß eine absolute Unbestimmtheit z.B. des genauen Ortes und der genauen Zeit eines Mikroteilchens gegeben ist. In diesen Bereichen mußte also entweder auf die raum-zeitliche oder die kausal-substantielle Bestimmtheit verzichtet werden - in dem Sinne daß je genauer die eine der Bestimmungen erfolgt um so ungenauer die andere wird bzw. werden muß. Jenes Reziprozitätsverhältnis hat NIELS BOHR dann bekanntlich mit dem Begriff "Komplementarität" belegt. Ich habe davon bereits als von einer erkenntnistheoretischen Wende gesprochen. Es ist nun reizvoll sich die verschiedenen Interpretationen des Begriffes "Komplementarität" einmal daraufhin vor Augen zu führen welche Aspekte sich aus diesem physikalischen Grenzfall der 20er Jahre ableiten lassen: - Philosophisches Wörterbuch Leipzig 1969: "Das Komplementaritätsprinzip besagt daß die Betrachtung von Mikroteilchen unter den beiden Aspekten von Korpuskel und Welle erkenntnistheoretisch und methodologisch den Gegenstand zwar vollständig disjunktiv er fasse daß beide Aspekte sich einander aber ausschließen." "Komplementarität: die von BOHR zuerst erkannte Koppelung von je zwei Größen eines physikalischen Systems die darin besteht daß die Messung der einen die gleichzeitige Messung der anderen stört" [14]. - Brockhaus-ABC Chemie Leipzig 1965: "Komplementär sind alle kanonisch konjugierten Größen d.h. Größen deren Produkt die Dimension einer Wirkung hat" [5]. - W. HEISENBERG: "Komplementär ist alles was im Widerspruch steht sich aber nicht notwendigerweise ausschließt". - G. KROPP: "Komplementarität ist die Eigenschaft einer Ganzheit die durch Analyse der Wechselwirkungen ihrer Teile notwendigerweise zerstört werden muß." "Komplementäre Beschreibungen sind einander ausschließende Beschreibungen am gleichen Objekt das in der Totalität seines Seins niemals in Erscheinung tritt sondern nur entsprechend der jeweiligen Fragestellung."Komplementarität heißt daß von zwei oder verschiedenen experimentellen Beobachtungen jeweils nur eine vonstatten gehen kann. Dabei kann in der Mikrophysik die Beobachtung vom zu beobachtenden Vorgang nicht getrennt werden". - K. MEYER-ABICH: "Komplementarität ist eine Beziehung nicht zwischen Tatsachen sondern zwischen Möglichkeiten". - C. F. v. WEIZSÄCKER: "Komplementarität ist die Tatsache daß nicht eine unzweideutige Beschreibung der Welt existiert". Eine solche Aufzählung verdeutlicht den Umfang des Denkkreises in welchem sich jede ganzheitliche Betrachtungsweise bewegen kann und muß. "Ganz" ist demzufolge etwas wovon keine andere als komplementäre Beschreibung gemacht werden kann [13) und schon BOHR selbst hat daraus folgernd die Formulierung gefunden daß "a sharp separation between object and subject" nicht möglich sei [16]. In fast künstlerischer Weise drückt er es mit den Worten aus: "Wir sind zugleich Zuschauer und Mitspieler im großen Drama des Lebens". Natürlich ist die philosophische und erkenntnistheoretische Diskussion zu dem Problem Teil/Ganzes an sich schon uralt. Die Lehren des Kung-Fu-Tse beinhalten sie; WERNER HEISENBERG schöpfte seine diesbezüglichen Grundkenntnisse aus dem Studium der Schriften Platos Nikolaus von Cusa's prägnante These von der "coincidentia oppositorum" besagt nichts anderes und Goethes Naturerkenntnis gipfelte im Gestaltbegriff als der phänomenologischen Dokumentation der Ganzheit. Aus dem Erkenntniskreis der Biologie ist diese Problematik überhaupt nicht wegzudenken. HEISENBERG schildert in seinem Buch "Der Teil und das Ganze" jenes "Walfisch=Gespräch zwischen ihm BOHR CHIEVITZ und BJERRUM dem Biologen das sich daran entzündete daß der Walfisch eine empfangene Wunde selbst heilen könne was das durch den Sturm beschädigte Boot nicht vermöchte. BOHR spitzt die Erörterungen darüber auf die Notwendigkeit der Frage zu wie es denn "die Natur zuwege gebracht habe daß die kausale und finale Betrachtungsweise des Lebens tatsächlich zusammenpassen" [17). Diese komplementäre Beziehung zwischen Kausalität und Finalität sei so antwortet ihm der Biologe doch selbstverständlich; der Biologe habe keinen Grund nach der Komplementarität überhaupt zu fragen da diese "in der Biologie zuhause" sei. Man kann formulieren daß mit dem Begriff der Komplementarität die Biologie Einzug in die Physik gehalten habe - freilich nur in die Mikrophysik aber eben doch an jenem Punkte unseres Welterkennens der tatsächlich deren innersten Zusammenhang betrifft. In diesem Bereich tritt nun anstelle der exakten Definition die statistische Beschreibung der definierte Zustand wird durch die Charakterisierung der Verhaltensweise abgelöst die Unbestimmtheit wird ein bestimmendes Faktum neben dem "Entweder/Oder" gibt es gleichberechtigt ein "Sowohl/Als auch". Im erweiterten Sinne wird also dabei die Definition zur Beschreibung das Gesetz zur Wahrscheinlichkeit Struktur und Funktion ergänzen sich zur. Kategorie "Verhalten" desgleichen die Sinnesphysiologie zur Kategorie "Erlebnis" das ständig Sich-Wandelnde ist das tatsächlich Bleibende. Ich möchte es so sagen: mit der Bestätigung der Komplementarität als wissenschaftlich unabdingbares Denk- und Operationsinstrument durch die Mikrophysik ist der wichtigste gemeinsame Nenner geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Erkenntnis gefunden worden. "Ganzheit" ist nicht mehr eine idealistische sondern eine physikalisch sprich wissenschaftlich begründbare Kategorie mit der Konsequenz einer eigens darauf ausgerichteten wissenschaftlichen Forschungsmethode. Ein Schritt zu einer solchen Methodik ist die Computertechnik mit der beliebige Modelle beliebig oft variiert durchgerechnet und anschaulich gemacht werden können - vorausgesetzt daß der input genügend umfangreich und verläßlich ist. Wir können zunächst also einmal feststellen daß der Begriff "Ganzheitstherapie" eine reale wissenschaftliche Basis besitzt mithin frei ist von jeglicher vitalistischen Spekulation und idealistischer Verbrämung. Für sie die Ganzheitstherapie ist ein Aspekt der Komplementarität besonders wichtig das ist der der "Ergänzungsbedürftigkeit" - und zwar als existentielle Notwendigkeit d.h. also besser als "Ergänzungsnotwendigkeit" begriffen und akzeptiert. Lassen sie mich aus diesem Blickwinkel nun einige Konsequenzen ziehen: 1. Wo immer möglich sollten sich somatische und psychische Therapie bewußt ergänzen. Vergessen wir aber nicht daß jede Therapie tatsächlich auch die "Ganzheit kranker Mensch" trifft d.h. sowohl dessen körperliche als auch seelische Sphäre berührt. Denken wir an die medikamentöse oder physiotherapeutische Behandlung psychischer Krankheiten denken wir an die Psychotherapie somatischer Erkrankungen an die somatischen "Nebenwirkungen der Psychopharmaka oder die psychischen "Neben"-effekte mancher Medikamente. 2. Jede Therapie wird stets von der "Ganzheit kranker Mensch" beantwortet ob dies nun effektiv relevant wird oder nicht. so beeinflußt nicht nur der Arzt den Patienten psychisch der Arzt als Droge" ist das bekannte Schlagwort dafür - sondern wie wir insbesondere durch die Forschungen MARTIN BUBERS wissen auch der Kranke den Arzt. Wir wissen auch daß rote Plazebo-Pillen aggressiver blaue sedativer oder grüne stärker als gelbe wirken! [15] . 3. Jede Therapie hat deshalb eine über die kalkulierte linearkausale Wirksamkeit hinausgehende Effektivität muß also sensu constricto "Neben"-wirkungen aufweisen. Es bleibt deshalb die Forderung vor allem die schädlichen aber - das wird meist in der Diskussion unterschlagen - auch die positiven "Neben"-effekte genau zu prüfen. solche "Ganzheitseffekte" können eintreten ohne daß wir es wissen - häufen sich doch die Befunde daß Nebenwirkungen" keineswegs sicher als vorhanden oder nicht vorhanden beurteilt werden können da scheinbar absolut gesicherte "Nebenwirkungen" durchaus nicht bei allen Kranken auftreten. Offenbar scheint sogar die Bereitschaft des Kranken ein therapeutisches Risiko einzugehen mitverantwortlich dafür zu sein. 4. Jede Krankheit ist nicht nur ein psychophysisches Ganzes sondern auch eine chronobiologische Ganzheit. Therapie ist deshalb nicht nur auf die pathische sondern auch auf die seitliche Ganzheit der Krankheit auszurichten. Sie umfaßt daher sowohl primärpräventive kurative sekundärpräventive und rehabilitative Aspekte. Sie muß also langfristig anwendbar und daher besonders nebenwirkungsarm und risikoarm sein. Ich erinnere als drastisches Beispiel an die chronische Einnahme von Appetitzüglern die - bekannt wurde es vom Aminorexfumarat - zur Entwicklung einer chronischen Hypertonie im kleinen Kreislauf führt [8]. Wie unkompliziert ist dagegen die Einhaltung einer Reduktionskost (so scheint es jedenfalls!); sie führte natürlich beim Vergleich mit den Appetitzüglern zu keinem einzigen Fall von Lungenembolie. 5. Eine Therapie muß stets versuchen neben der Beseitigung der Noxe auch die reaktive Leistung des Organismus gegen diese Noxe zu fördern und zu steigern. In diesem Sinne besteht eine Komplementarität zwischen Entlastung und Belastung [10]. Diese Forderungen sind nicht neu. Ich glaube aber daß die Konsequenzen die sich aus ihnen für die Wahl der Therapieform im Einzelfall ergeben noch keineswegs bisher befriedigend beachtet werden. Aus der Komplementaritätsüberlegung wird ja eben sehr deutlich und deshalb habe ich diesen Aspekt gewählt - wie sehr für jede Therapie der Grad der Ergänzungsnotwendigkeit der einzelnen therapeutischen Leistungen zu bedenken ist. Vorrangig sind dabei die Probleme der langfristigen und der möglichst risikoarmen Anwendbarkeit die verbesserte Toleranz gegenüber der Krankheit oder aber auch des zu erwartenden Therapiestreß - z.B. einer großen Operation - und die Begünstigung der Konkordanz aller hygiogenetisch relevanten Reserven des Organismus - einschließlich deren biorhythmischer Ordnung. Daneben sind es vor allem die Fragen der zeitlichen Zuordnung bzw. Abfolge einzelner Therapieelemente also das Problem ihrer differenzierten Integration. Wir müssen ohne Zweifel bekennen daß es auf diesem Feld bisher nur sehr unzureichende wissenschaftlich fundierte Konzepte gibt wenn auch durchaus eine reiche Empirie in bruchstückhafter Form auf die sich aufbauen läßt. So wissen wir beispielsweise daß eine trainierende Kinesitherapie die Nitro- und Glykosidtherapie der ischämischen Herzkrankheit unbedingt ergänzen muß desgleichen eine Psychotherapie die Antazidabehandlung der Ulkopathie mit chronischer Gastroduodenitis. Liest man jedoch über die Therapie in den verschiedenen Fachzeitschriften gründlich nach so wird man kritisch feststellen müssen daß wir vielfach noch recht weit von dem simplen Grundsatz "Die richtige Therapie am richtigen Kranken zur richtigen Zeit" entfernt sind. Die Therapieforschung der Zukunft muß sich - so meine ich - am Komplementaritätsgedanken orientieren. Praktisch heißt das: 1. Vorwiegende Konzentration auf Therapiestrategien und -taktiken von Kombinationen der einzelnen Therapiekomponenten. 2. Vordergründige Planung von Therapieforschung nicht nach dem Prinzip der Plazebo-Ideologie mit wissentlicher Gabe unwirksamer Medikamente sondern nach dem Prinzip der retrospektiven Gruppierung. Damit soll nichts gegen die Anwendung der Plazebotechnik zur Sicherung einzelner Therapieeffekte gesagt sein; Plazebotherapie kann durchaus auch als psychosomatische Komplementaritätsforschung verstanden werden. 3. Stärkere Einbeziehung der reaktiven Leistung des Kranken in die Untersuchungen besonders der zeitlichen regulativen oder adaptiven Antworten - also die Berücksichtigung nicht nur der Frage: Ist die vorhergesagte Wirkung eingetreten? sondern auch wie und wann ist diese Wirkung in Erscheinung getreten? 4. Studium von Verhaltensweisen des Kranken bei der Therapie mit anderen Worten der Randbedingungen der Therapie für den Kranken. 5. Nutzung aller erfolgversprechenden Faktoren aus der physikalischen und soziologischen Umwelt etwa des Bioklimas des Alltags- und Erholungsmilieus der familiären beruflichen und zwischenmenschlichen Beziehungen zur bewußten Therapie. Bei all dem ist nicht zu vernachlässigen daß der wichtigste Parameter für jede Therapieforschung - die momentane Ausgangslage des kranken Organismus und seiner reaktiven Leistungsfähigkeit - vom Gesamtorganismus d.h. vom Gesamtcharakter seiner Wechselwirkungen diktiert wird und somit beispielsweise die Höhe des Blutdruckes keine ausreichende Bezugsbasis für eine Dosierung von Antihypertonika darstellt. Auch das gehört zur Konsequenz der Komplementarität. Eine weitere Folgerung: An das wissenschaftliche Vorgehen der Medizin kann nicht allein der Maßstab der klassischen Mathematik oder Physik angelegt werden. Deren Leistungen kann sich die Medizin und muß sich ihrer bedienen soweit sie damit nicht ihre eigentliche Zielstellung verleugnet oder sogar untergräbt. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Grenzen der Biometrie oder Biostatistik an die Unersetzlichkeit von Krankenbeschreibungen im Sinne einer ikonischen nicht nur semantischen Anschaulichkeit aber auch an unsere Erlebnisse als Ärzte mit Kranken die unser zukünftiges Handeln und Behandeln modifizieren verunsichern oder routineschablonisiert werden lassen können. Krankheit hat nicht nur ein wissenschaftliches Wesen sondern vor allem eine Bedeutung für den Kranken die es unsererseits umfassend zu begreifen gilt. Wir können uns was den Begriff" wissenschaftlich" betrifft an die Formulierung von BERNHARD BAVINK dem vorzüglichen Synoptiker der Naturwissenschaften halten die da lautet: "Wissenschaft ist jede logische Verknüpfung von Tatsachen". Denn gälte diese Behauptung nicht dann hätte spätestens mit der Geburtsstunde der Komplementaritätsnotwendigkeit auch die Todesstunde für die Wissenschaftlichkeit geschlagen. Alle solchen im BAVINKschen Sinne "logischen Verknüpfungen" sollten uns - und hier meine ich besonders die zu diesem Jubiläumssymposium Versammelten - immer wieder zur Ganzheit hinführen anstatt sie uns ihrer zu entfremden. Ich glaube es trifft sich gut daß das Datum unseres heutigen Symposiums auch das Geburtsdatum WERNER HEISENBERGs ist der heute 79 Jahre alt geworden wäre. Denn ganz im Sinne seiner Erkenntnis von den Beziehungen des Teiles zum Ganzen die sein letztes großes Werk erfüllt möchte ich das Fragezeichen in der Überschrift meines Beitrages zu einem eindeutigen "Ja" auflösen und meine die zukünftige Forschergeneration der Physiotherapie sollte dies auch tun. Zusammenfassung Ausgehend vom Komplementaritätsprinzip N. BOHRs wird das wissenschaftstheoretische Fundament des Begriffes "Ganzheitstherapie" analysiert und als begründet beurteilt. Die Komplementaritätsüberlegungen führen zur Präzisierung des theoretischen Umfanges einer solchen ganzheitlichen Therapie deren Konsequenzen erörtert und zu einem Ausblick für eine zukünftige Forschungsstrategie erweitert werden. Literatur 1. BAVINK B.: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. 10. Aufl. S. Hirsel Verlag Zürich 1954 S. 452. 2. BERTALLANFY L. v.: Theoretische Biologie Bd. 1 und 2. Berlin 1932 und 1942. 3. BOHR N.: Atomtheorie und Naturbeschreibung. Vier Aufsätze mit einer einleitenden Überschrift. J. Springer Verlag Berlin 1931. 4. Ders.: Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung der Atomtheorie. Naturwiss. 16 (1928) 245-257. 5. Brockhaus-ABC Chemie. 1. Bd. VEB F. A. Brockhaus Leipzig 1965 S. 710. 6. BUBER M.: Ich und Du. In: Das dialogische Prinzip. Lambert-Schneider Verlag Heidelberg 1973. 7. GROSS R.: Der Arzt zwischen Naturwissenschaft und Humanität. Verh. Dt. Ges. Inn. Med. 84 (1978) XL-LII. J.F. Bergmann Verlag München 1978. 8. GURTNER H. P. M. GERTSCH C. SALZMANN M. SCHERRER P. STUCKI und F. WYSS: Schweiz. med. Wochenschr. 98 (1968) 1579-1589 und 1645-1707. 9. HEISENBERG W.: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. R. Piper & Co. München 1969. 10. JORDAN H.: Belastung und Entlastung in Pathogenese und Hygiogenese. Eine Konzeption zur Physiotherapie. Diaita 13 (1967) 3-6. 11. KROPP G.: Zum Begriff der Komplementarität; Philosphia naturalis I/3; S. 446-462. Westkulturverlag Meisenhein/Glan 1951. 12. LASHLEY K. S.: The problem of Serial Order in Behavior. In: Cerebral Mechanisms in Behavior. The Hixon-Symposium. Ed. by L. A. FEFFRESS New York. I. Wiley & Sons Inc. Chapman & Hall Lt. London 1951. S. 112-136; zit. S. 112. 13. MEYER-ABICH K.-M.: Korrespondenz Individualität und Komplementarität. Eine Studie zur Geistesgeschichte der Quantentheorie in den Beiträgen Niels Bohrs. In: BOETHIUS Bd. V. Fr. Steiner Verlag G.m.b.H. Wiesbaden 1965. 14. Philosophisches Wörterbuch. hrsg. von G. KLAUS u. M. BUHR Bd. 1. VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1969 S. 586. 15. SHAPIRA K. H. A. McCLLELAND N. R. GRIFFITHS und D. J. NEWELL: Brit. med. J. 1970/2: S. 446-449. 16. s.Lit.-Zitrat Nr. 13 a.a.O. S. 173 (Originaltext v. Bohr). 17. s. Lit.-Zitrat Nr. 9 a.a.O. S. 152-155. 18. WEIZSÄCKER C. Fr. v.: Die philosophische Interpretation der modernen Physik 3. Aufl. Nova Acta Leopoldina (Neue Folge) Bd. 37/2. Nr. 207 Halle/Saale 1973.

Keyword(s): Physiotherapie Komplementarität Ganzheitsmedizin Wissenschaftstheorie


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