Zur Darstellung reaktiver Phasen im Kurverlauf |
Journal/Book: Z. Physiother. 31 (1979) 269-276. 1979;
Abstract: Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster (Direktor: OMR Prof. Dr. med. habil. H. Jordan) 1Vortrag auf dem 8. Kongreß der Ges. f. Physiotherapie 20.-22.3.1978 in Dresden Das Auftreten reaktiver Phasen im Zuge einer Kurortbehandlung ist ein jedem Kurorttherapeuten bekanntes Phänomen. Es kommt uns im Folgenden darauf an an Beispielen zu erhärten daß 1. Kurverlauf und Kureffekt nicht nur in sich selbst sondern nur unter Einbeziehung entsprechender jeweiliger Anschlußwerte richtig zu bewerten sind 2. die ausreichende Beurteilung reaktiver oder adaptiver Phasen genügend häufig besetzte Längsschnittuntersuchungen verlangen. Therapeutisch richtig gesteuerte Kuren setzen voraus daß sich die kritischen Zeitpunkte ihrer Steuerungsmöglichkeit oder ihrer Steuerungsnötigung erkennen lassen. Dazu müssen kollektivtypische Verhaltensweisen analysiert werden um ihnen die individuellen Verhaltensweisen entsprechend gut gegenüberstellen zu können. Einige methodische Hinweise hierzu wollen wir in dieser Mitteilung geben. Gewissermaßen als "Ausgangslage" für jede Kurortbehandlung gewinnt die von uns als "Kureintrittsreaktion" bezeichnete Phase eine wesentliche aber schwer erfaßbare und auch wenig beachtete Bedeutung [5] gemeint ist damit der Übergang vom Heimatort in den Kurort. Einige Beispiele sollen das belegen. An 11 615 Patienten läßt sich zeigen daß - den bekannten Ausgangswertbeziehungen entsprechend - beim Übergang vom Heimatort in den Kurort die systolischen Blutdruckwerte unterhalb eines mittleren Wertes von rund 140 Torr ansteigen diejenigen darüber abfallen. Der Wert 140 Torr repräsentiert dabei die von uns früher beschriebene "regulative Norm" (oder vorsichtiger als "regulative Null-Lage" bezeichnet) [1 4 6]. Eine Aufgliederung nach dem Lebensalter läßt aber deutliche Unterschiede dieser Reaktion erkennen; so liegt ebendiese "regulative Norm" für die weniger als 30 Jahre alten Patienten bei 130 Torr für die mehr als 50 Jahre alten etwa bei 160 Torr. Es liegt auf der Hand daß derartige "funktionelle Normen" für die Beurteilung reaktiver Geschehnisse viel bedeutsamer sind als statische Normen wie sie sich beispielsweise als Mittelwert aus einer großen repräsentativen Population berechnen lassen. Es deutet sich ferner an daß vielleicht auch das Heimatmilieu derartige initiale Reaktionsdifferenzen mitprägt. So zeigen Patienten aus relativ industriereichen Bezirken gegenüber solchen aus industriearmen in unserer Republik gewisse Abweichungen der Kureintrittsreaktion wie Abbildung 1 zeigt. Hier verschiebt sich sowohl die Ausgangswertabhängigkeit als auch die regulative Nullage (mit dem Chiquadrat-Test signifikant trennbar). Bei den aus den Industriebezirken kommenden Kranken sinken die höheren Blutdruckwerte nicht so stark ab die tieferen steigen nicht so stark an. Betrachtet man die sogenannte "borderline-Gruppe" (= systolischer Blutdruck im Heimatort von 160 Torr) so läßt sich zeigen (Abb. 2) daß über 50% beim Eintritt in das Kurortmilieu ihren borderline-Wert unterschreiten daß aber auch Zunahmen auftreten. Ohne Abb.1 Änderungen des systolischen Blutdruckes nach bestimmten Werten in der Heimat in Beziehung zum Herkunftsort der Kurpatienten. Ausgezogene Linie: Herkunftsorte in Bezirken mit weniger als 25% Beschäftigten in der Industrie; gestrichelte Linie Herkunftsorte in Bezirken mit mehr als 40% Beschäftigten in der Industrie Ohne Abb.2 Veränderungen des systolischen Blutdruckes zu Kurbeginn bei Patienten mit einem systolischen Blutdruck von 160 Torr (Heimatwert) nach Ortsgrößenklassen. Weiße Säulen: Anteil aus Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern (n = 93) schraffierte Säulen: Anteil aus Gemeinden mit mehr als 50 000 Einwohnern (n=368). Gliedert man diese Patienten in Dorf- und Großstadtbewohner so sind die Kranken aus den Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern daran signifikant weniger beteiligt. Ohne Abb.3 Übersicht der Veränderung des systolischen Blutdruckes bei Kurpatienten (n=11 615) nach den Ausgangswerten im Heimatort geordnet (Kurpatienten Bad Elster 1957-1958) Die Bedeutung der Kureintrittsreaktion als "Ausgangslage" für den Kureffekt wird deutlich wenn man das Verhalten der Blutdruckwerte der Kureintrittsreaktion in Beziehung zum Blutdruckverhalten am Ende der Kurorttherapie setzt. Abbildung 3 zeigt daß unterhalb der regulativen Norm also im hypotonen Bereich zwischen Heimat und Eintritt in den Kurort ein relativ hoher Anstieg der Werte einsetzt der auch bis zum Kurende hin fast unvermindert anhält. Im hypertonen Bereich dagegen ist eine etwas stärkere Senkung der Werte im Verlauf der Kurorttherapie bei Anfangswerten zwischen 160 und 180 Torr zu verzeichnen die einen wirklichen Therapieeffekt repräsentieren könnte. Es zeigt sich daß zwischen der Kureintrittsreaktion und dem Kureffekt über die ganze Werteskala verteilt signifikante Differenzen bestehen womit das eben Gesagte erhärtet wird. Das Kollektivverhalten über den ganzen Kurbehandlungsverlauf hinweg ergibt interessante Einblicke. So weist beispielsweise das regulative Verhalten der Pulsfrequenz bei ausgesprochen hypotonen und hypertonen Patienten erhebliche Unterschiede auf. Bei annähernd gleicher Grundverteilung der Pulsfrequenzen beider Gruppen erreichen die Hypotoniker schon am 6. Kurtag den crossover-point der "regulativen Nullage" die Hypertoniker dagegen erst am 12. Tag. Es ist ferner charakteristisch daß beide Gruppen bis gegen Kurende in dieser Nullage mit nur geringen Schwankungen verharren die Pulsfrequenz der Hypertoniker weist eine ausgesprochene "Kurendreaktion" ("Erwartungswert des "Aber-was-kommt-dann?") auf. Man kann annehmen daß eine bezüglich der Pulsfrequenz adaptive Phase schon um den 8. bis 9. Kurtag abgeschlossen ist zu welchem Zeitpunkt die Hypertoniker nochmals mit einer weiteren signifikanten bradykarden Reaktion antworten die natürlich auch bereits ein Ausdruck therapeutischer Effektivität sein könnte. Es kommt uns hier weniger auf die Erklärung solcher Details als darauf an überhaupt das Auftreten derartiger reaktiver Prozesse sichtbar zu machen. Hierbei sind auch Altersdifferenzen mitzuberücksichtigen. Ohne Abb.4. Dreitägig übergreifende Mittelwerte von Körpertemperatur (oben) Pulsfrequenz (Mitte) und systolischem Blutdruck (unten) im Kurverlauf (n=645) (Kurpatienten Bad Elster 1959-1962) Abbildung 4 demonstriert die Mittelwertänderung der Körpertemperatur der Pulsfrequenz und des systolischen Blutdruckes. Wir wollen damit auch zeigen daß die intraindividuelle Reaktionsamplitude der jeweiligen Meßgröße d. h. ihre relative Ansprechbarkeit auf Reize erheblich unterschiedlich sein kann ferner daß - z. B. bei der Kurve der Körpertemperatur - sich ein deutlicher Wochenrhythmus ausprägt auf den schon anfänglich kurz hingewiesen worden war. Gemeinsam ist diesen drei Verläufen das Abbremsen der initialen massiven Reduzierung innerhalb einer Zeit bis etwa zum 9. Kurtag dem ein Weiterverlauf mit relativ ungestörtem Niveau folgt. Eine besonders gute Möglichkeit reaktive Verläufe bei Kurpatienten zu erfassen bietet die Berechnung der Streuung der interdiurnen Änderungen von kollektiven Meßwerten wie sie von WAGNER entwickelt und von unserem Arbeitskreis seit vielen Jahren benutzt wurde [2 7 8]. Man kann behaupten daß eine Zunahme dieser Streuungswerte einer Labilisierung eine Abnahme dagegen einer Stabilisierung des Kollektivs zuzuordnen ist da sich in der Streuung (d. h. der Varianz) die Plus- oder Minusabweichungen vom Kollektivmittelwert dokumentieren. Ohne Abb.5. Mittelwerte des systolischen Blutdruckes (über 3 Tage ausgeglichen) im Kurverlauf für eine Patientengruppe mit Werten von > /= 152 Torr (oberer teil) und die dazugehörige Streuung der täglichen Änderungen (unterer Teil) (n=350) (Kurpatienten Bad Elster 1952-1962) Somit wird eine zusätzliche Aussage zur Beurteilung regulativer oder adaptiver Prozesse gewonnen. Am Beispiel der Abbildung 5 etwa zeigt sich daß die Mittelwertänderung des systolischen Blutdruckes nur eine scheinbar eindeutige und ruhige ist; das Verhalten der Streuung der täglichen Änderung deckt auf daß etwa in der Zeit vom 9. bis 17. Tag Zu- und Abnahmen der Streuung wechseln d. h. daß in diesem Zeitraum das Kollektiv offenbar größeren und sich gegensätzlich auswirkenden Reizeinflüssen ausgesetzt ist. Vergleicht man dazu die mittlere tägliche Änderung so ersieht man daß in ebendiesem Zeitraum der Blutdruck praktisch nicht mehr abnimmt teils sogar zunimmt. Natürlich wird die Typik solcher Verläufe bei jedem Kollektiv anders aussehen und auch für andere Meßparameter eine andere Charakteristik aufweisen. Wir sind deshalb gegenwärtig dabei eine Reihe solcher täglich kontrollierter und auf ihre täglichen Änderungen geprüfte Parameter korrelativ auf ihre Koinzidenz und/oder Kongruenz zu untersuchen. Ohne Abb.6. Streuung der täglichen Änderungen des Körpergewichtes (oben) und mittlere tägliche Abnahmen des Körpergewichtes (unten) bei 203 Männern mit einem Anfangsgewicht von 110 5 kg unter einer Reduktionstherapie im Kurort Mariánské Lázné (CSSR) Als ein weiteres Beispiel dieser Betrachtungsweise seien unsere Messungen des Körpergewichtes unter einer Reduktionskost angeführt die wir in Kooperation mit dem Partnerinstitut in Mariánské Lázné bearbeiten. Abbildung 6 demonstriert die mittlere tägliche Abnahme des Körpergewichtes (unterer Teil der Abbildung) und die dazugehörige Streuung der täglichen Änderungen (oberer Teil). Die alleinige Beurteilung der mittleren Abnahme würde nur zu dem Schluß führen daß die Gewichtsabnahme zu gewissen Zeiten nicht gleichmäßig groß ist. Die Einbeziehung der Streuung der Änderungen muß dagegen zur Behauptung führen daß in der fraglichen Zeit auch Gewichtszunahmen auftreten - eine gewiß nicht unwichtige Feststellung die dadurch besonderes Gewicht erhält daß es sich im vorliegenden Falle um eine sehr stramm therapiebezogene Reaktion handelt. Die kritische Phase der "Anpassung" an die Therapie liegt auch hier wiederum um den 10. bis 14. Kurtag nach dem initialen Stoßeffekt. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Streuungen der Änderungen bei der Pulsfrequenz und der Atemfrequenz während der Hochseeklimakur 1965 der DDR (s. dazu [3 8]) hingewiesen um die Möglichkeiten zu umreißen die sich mit dieser Methode bieten reaktive Phasen und Anpassungsphänomene während einer Kurorttherapie zu erfassen und zu beschreiben. Wir glauben daß es mit der breiten Anwendung derart einfacher aber infolge guter Reproduzierbarkeit aussagefähiger Methoden der Therapieeffektforschung gelingen wird auch die längerfristige Beeinflussung pathophysiologischer Prozesse durch unsere Therapieform sichtbar zu machen. Zusammenfassung An einschlägigen Beispielen werden reaktive Prozesse erläutert die sich während einer Kurortbehandlung an Blutdruck Pulsfrequenz und Körpergewicht vollziehen wobei insbesondere die Berechnung der Streuung der täglichen Änderung dieser Meßwerte zur Analyse kollektivtypischer Labilisations- und Stabilisationsphasen berücksichtigt wird. Diese einfache Methode empfiehlt sich auch zur Darstellung adaptiver Vorgänge. Literatur 1. Jordan H.: Zum regulativen Normbereich altersbezogener Blutdruckwerte; in: Biokybernetik I (Hrsg.: Drischel H. und N. Tiedt) S. 268. Karl-Marx-Universität Leipzig 1968. 2. Jordan H.: Kurverlauf und Kureffekt - Ergebnisse eines biometrisch-klinischen Arbeitskreises. Z. Physiother. Leipzig 24 (1972) 267-302. 3. Jordan H.: Vergleichende Beobachtungen von Puls- Atem- und Blutdruckwerten bei Besatzungsmitgliedern und Ekzemkranken; in: Linser K. und H. Kleinsorge: Die Hochseeklimakur S. 91-95 (Bd. 6 der Reihe Allergie- und Asthmaforschung). J. A. Barth Leipzig 1969. 4. Jordan H. D. Reinhold und H. Wagner: Untersuchungen zum regulativen Normbereich des Körpergewichtes. Z. ges. inn. Med. Leipzig 22 (1967) 277-280. 5. Jordan H. und H. Wagner: Untersuchungen am systolischen Blutdruck zur Beurteilung einer. Kureintritts- und Kurerfolgsreaktion. Z. ges. inn. Med. Leipzig 17 (1962) 193. 6. Jordan H. und H. Wagner: Biorheutische Variationen der regulativen Normen von Blutdruck Pulsfrequenz und Körpergewicht. Z. Alternsforsch. Dresden 22 (1970) 345-354. 7. Jordan H. und H. Wagner: Aussagemöglichkeiten über die biologischen Meßwertänderungen durch Streuung und Regression. Abh. dt. Akad. Wiss. Berlin Kl. Math. Phys. u. Techn. 1964 S. 69-72. 8. Jordan H. und H. Wagner: Reaktionen der Puls- und Atemfrequenz auf einen Klimareiz an Hand der Streuung der täglichen Änderungen. Z. angew. Bäder- u. Klimaheilkd. Stuttgart 16 (1969) 404-409.
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