Struktur und Funktion: Ein Ansatz der Physiotherapie |
Journal/Book: Z. Physiother. 27 (1975) 91-95. 1975;
Abstract: Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster (Direktor: OMR Prof. Dr. med. habil. H. Jordan) Im Jahre 1958 hat der Leipziger Kliniker Max Bürger als ein Ergebnis seiner vor rund 50 Jahren begonnenen Arbeit zum Problemkreis der "Biorheuse" formuliert das Nachdenken über die Zusammenhänge zwischen Struktur und Funktion gehöre zu denjenigen Generalthemen des medizinischen Denkens die notwendig seien um der Gefahr des "Verlustes der Mitte" in der Medizin zu entgehen. Diese "Mitte" der Medizin war für Bürger gleichbedeutend mit "Grundlagen für die Allgemeinausbildung des praktisch tätigen Arztes" [9]. In einem derartigen Sinne nun scheint es mir notwendig zu sein auch von der Warte der Physiotherapie aus diesen beiden Kategorien Struktur und Funktion einige Aufmerksamkeit zu widmen. Struktur und Funktion haben als Begriffe zunächst ihren sicheren Platz in Technik und Physik. Ihre dort noch klaren Abgrenzungen lösen sich jedoch in gleicher Zügigkeit auf mit der wir in die "Substrukturen" vordringen. Im molekularbiologischen Bereich sind Struktur und Funktion praktisch untrennbar sie sind "quasi-identisch" wie man in Anlehnung an die schon von Aristoteles gefundene Formulierung zu sagen pflegt. Eine derartige "Quasi-Identität" kann man am einfachsten verständlich machen am Vergleich von "Menge" und "Haufen": Jede Menge d. h. eine definierte Anzahl von Gegenständen ist auch immer ein Haufen - bis auf den Grenzfall 1 Stück: das ist das Einmaleins der Mengenlehre [7]. Die Mathematiker verstehen unter Funktion die Zuordnung einer Zahl zu einer anderen und was ist "Zuordnung" anderes als eine Struktur. In ebensolchem Sinne sprechen wir beispielsweise auch von linguistischen oder - noch allgemeiner - von Informationssystemen oder eben einer Informationsstruktur. "Strukturen" können folgerichtig als "Koppelungsmatrix" und "Funktionen" als Transformationen eines "input-" in einen "output-Vektor" beschrieben werden. Funktionen ohne Strukturen erscheinen im gesamten Bereich der Natur ebenso prinzipiell undenkbar wie Strukturen ohne Funktionen. In der uns so geläufigen Denkweise des Technikers befangen wird meist von dem Denkstandpunkt ausgegangen daß diese oder jene Struktur vorhanden sei um jene oder diese Funktion zu gewährleisten. In Wirklichkeit aber hat wohl primär die Funktion die Gestaltung der Struktur erzwungen und wird die Konstanz der Struktur nur durch permanente Funktionen - feedback-Funktionen - gewährleistet d. h. die Funktion steuert die Struktur. Das scheint für die Kosmogonie ebenso wie für die biologische Zelle zu gelten. Die moderne embryologische Forschung hat gezeigt daß das sogenannte "biogenetische Grundgesetz" von Fritz Müller und Ernst Häckel als solches nicht existiert und dafür eine kinetische Entwicklungstheorie begründet die besagt daß der Organismus zwar im Augenblick der Befruchtung individuell determiniert ist daß aber die Erhaltung dieser Individualität über die Entwicklung eines spezifischen Stoffwechsels und trajektorieller Strukturen als Folge biomechanischer Kräfte erfolgt [6]. So hat man beispielsweise zeigen können daß die Entwicklung des Herzkammerseptums genau entlang der hydraulischen Minimaldruckzonen vor sich geht die sich bei der langsamen Krümmung des embryonalen Herzschlauches sozusagen in der Seelenachse der Blutströmung ausbilden [16]. Besonders schön sind auch die Beispiele der epikardialen und intramuralen Koronargefäße von denen erstere eine "Scherengitter-Druckschlauch-Charakteristik" haben die keine Querdehnung zuläßt letztere das "Schlauchpumpen-Prinzip" dokumentieren welches das der Herzaktion adäquate "Melken" d. h. also fortgesetzte Querdehnungswellen der Koronarvenen ermöglicht [25]. Charakteristisch sind auch ein sicher von der Statik sowie von der bevorzugten Funktion abhängiges lokales Verteilungsmuster des Hydroxylapatitgehaltes des Skeletts [17] beziehungsweise die sich erst während des Lebens ausbildende Schrägstellung der Osteonlängsachsen des Femurschaftes als Anpassung an die Biegungsbeanspruchung [12]. Bürger hatte schon auf den unterschiedlichen Proteingehalt der Aorten- und Pulmonalisklappen - von denen letztere ja erst post partum in Funktion treten - hingewiesen [10]. Mörl konnte zeigen daß beim arteriovenösen Aneurysma die Arterienwand hauchdünn atrophiert die Venenwand aber die histiologischen Eigenschaften einer Arterienwand annimmt [22]. Der funktionell hypertrophische Muskel ist als Beispiel ebenso geläufig wie die Verdickung der Herzklappen bei kardialer Regurgitation infolge Aorteninsuffizienz [11]. Philosophisch interpretiert bilden Struktur und Funktion eine dialektische Einheit; sie stehen demnach nicht in einer Ursache-Wirkungs-Beziehung sondern in einer 'Wechselwirkung. Keineswegs kann die teleologische Interpretation gelten daß die Verknüpfung von Struktur und Funktion eine Zweckmäßigkeit sei mit der Zielsetzung der besseren Überlebenschance. Sehr eindrucksvoll erscheint in diesem Blickwinkel z. B. die hämodynamische Situation bei der Giraffe die Gauer für Probleme der Raumfahrt studiert hat: da zur Durchblutung des hoch oben sitzenden Giraffengehirns eine Blutdruckleistung von etwa 360/260 Torr erforderlich ist muß das dieser Druckarbeit angepaßte Herz so groß sein daß es beim erwachsenen Tier rund 2/3 des gesamten Thoraxvolumens einnimmt. Dies hat zur Folge daß die Giraffe nur wenige hundert Meter galoppieren und deshalb dem sie jagenden Raubtier nicht lange entrinnen kann [13]. Man kann mit Bertallanfy [5] formulieren Organe seien im Grunde "langsame Funktionen" Damit ist nicht nur der permanente Reproduktionsprozeß jeder lebenden Substanz gemeint sondern die Tatsache daß Strukturen nur durch ständige - und zwar optimale - Funktionen erhalten werden können und daß andererseits nur eine optimale Struktur eine einwandfreie Funktion gewährleistet. Struktur und Funktion werden damit zu Koaktivkomplexen wie Rothschuh das nennt [27]. So ist z. B. die Komplexverschaltung der Neurone im Gehirn nicht starr sondern dynamisch; die synaptischen Haftstellen der Dendriten sind plastische Elemente unterschiedlicher Aktivität die Transmitter-Aktivität in der Synapse ist an eine Dynamik zwischen Kontaktelementen und Synaptolemm gebunden [1]. Ähnlich ist auch die Arterienwand ein stoffwechselautonomes System dessen Struktureigentümlichkeiten - ein dreidimensionales Netzwerk von Kolloidal-Knäueln aus Chondroitinsulfat C - einen "Molekularsiebeffekt" für die Passage von Molekülen optimaler Größenordnung ermöglichen [8]. So ist die Basalmembran keine Trennwand sondern Interzellularsubstanz für das "Organ Blut" [26]. Man versteht aus derartiger Sicht die Formulierung G. v. Bergmanns gut die Strukturstörung sei die "morphologische Epikrise" einer Betriebsstörung [4]. Strukturen sind demnach normalerweise stets ideal an die optimale Funktion angepaßt. Abweichungen hiervon sind dem Pathologen bekannt: allerdings darf hierbei nicht "Struktur" mit "Form" gleichgesetzt werden. Die "Form" eines Organs kann z. B. weitgehend verändert werden ohne daß seine "Funktion" nennenswert geändert wird - man muß annehmen daß also dabei trotzdem die leistungsdienlichen Strukturen prinzipiell erhalten geblieben sind. Hier wäre vielleicht von einer "Plastizität" zu sprechen die die Morphe die Gestalt in relativ breitem Bereich verändern kann (Becker [3]). Es gehört zum Wesen der Bioökonomie daß mit einem möglichst geringen Strukturaufwand stets ein Optimum an Funktion erzielt werden soll und umgekehrt. In dieser Sicht ist beispielsweise interessant daß das menschliche Herz in seinem muskulären Aufbau dem Verwringungsprinzip folgt. Dieses Prinzip wurde von August Weinert als das optimale Bewegungsprinzip erkannt und ist u. a. auch für den Bewegungsvorgang selbst gültig [14]. Eine Optimierung der Funktion durch raumsparende Strukturen ist bei der Aorta gegeben die über eine Zwei-Phasen-Struktur (Kollagen und Elastin) verfügt deren Elastizitätsmodul kleiner als der des hochelastischen und genügend größer als der des geringelastischen Strukturanteils ist. Damit können Druckdifferenzen energetisch sehr günstig übertragen werden - die in Plaste eingebettete Glasfiber unserer modernen Industrie entspricht diesem Materialtyp [15]. Dies mag als Beispiel genügen. Mehr vom Gedanken an die "Form" als an die "Struktur" geleitet spricht man von einer "Morphokinese" als Anpassungserscheinung an eine Änderung des Leistungssolls [28] und muß dann folgerichtig eine funktionsfördernde von einer funktionsmindernden Morphokinese trennen. Werden bestimmte Funktionen überfordert so können strukturelle Schäden entstehen wobei nicht übersehen werden darf daß nicht immer Grenzbelastungen erreicht werden müssen um Strukturen zu zerstören; ich denke an Marschfrakturen an die Mikrotraumen der Fußballspieler [2] oder an die schleichende Arthronose-Entwicklung der Sportler [24]. Im gegenteiligen Fall kommt es zum Strukturverlust: die Ruheatrophie des Muskels sei hier genannt. Gewisse anatomisch bedingte Strukturen werden zu Prädilektionsstellen für pathologische Prozesse. Das beweisen z. B. die Prallwände der arteriellen Gefäße [21 23] mit dem sog. "silting effect" (Volkheimer [30]) der zur Ausbildung der Arteriosklerose führen kann [29]. Schließlich zwingen uns unsere physiologischen Strukturen bestimmte Funktionsbegrenzungen auf. Das ist uns allen vom Bewegungsapparat her geläufig. Man denke aber auch beispielsweise daran daß die nervale Reaktionszeit unseres Auges das unter der Bezeichnung "Distanz-Skotom" bekannte Phänomen verursacht: ein Auto mit 90 km/h fährt noch volle 16 m ein Überschalljäger noch 1 6 km ehe der Fahrer bzw. Pilot ein eventuelles Hindernis erkennen und irgendein Ausweich- oder Bremsmanöver einleiten kann [18] dessen Beginn wiederum noch durch die Reaktionszeit und die nervale Leitgeschwindigkeit zu den Extremitäten verzögert wird. Obgleich Strukturveränderungen das "historische Dokument" einer Funktionsstörung sind wie es Rothschuh [27] formuliert können sie selbst sekundär zur maßgeblichen Krankheitsbedingung werden - denken wir nur an den Myokardinfarkt der ein Herzwandaneurysma entwickelt oder an das angeborene Vitium cordis an die Leberzirrhose. Die erdgeschichtliche Entwicklung des Lebens lehrt ebenfalls daß von einem teleologischen Charakter der Phänomenologie des Bios nicht gesprochen werden kann. Denn sicher ist es nur jene ungeheuerliche zeitperspektivische Verzerrung die uns diese Zielsicherheit der Endlösung die "Entelechie" also vortäuscht und dazu das Nicht- oder Nicht-mehr-beweisen-Können aller Zwischenlösungen Fehlleistungen und Versager innerhalb dieses Werde-Prozesses im Laufe der Jahrmillionen. Es ist ein naturwissenschaftliches Gesetz daß die Ausformung eines höherentwickelten Seins- oder Geschehensprinzips nicht aus seiner niedrigeren Vorstufe vorausgesagt werden kann - sie kann aber natürlich aus ihr im nachhinein erklärt werden [20]. Und so wissen wir daß die Zeit nicht die Morphe sondern nur die Morphose nicht die Gestalt sondern nur den Gestaltwandel zuläßt - mit anderen Worten daß die Gestalt keine statische sondern eine dynamische zeitfunktionelle Größe ist. Krankheit kann als Störung der raumzeitlichen Korrespondenz d. h. des Gleichgewichtes zwischen Struktur und Funktion in der Zeit aufgefaßt werden weshalb dann jede Therapie auch einen zweiseitigen Ansatz haben muß um die bionome Wechselwirkung zwischen Funktion und Struktur fördernd zu unterstützen (Löther [19]). Therapeutische Änderungen der Struktur sind nur in relativ begrenztem Umfange möglich - aber auch wenn diese geschehen sind gilt sicher daß die Funktion optimiert werden muß wenn die Struktur erhalten bleiben soll. Verlorene Funktion bedeutet früher oder später Desorganisation der Struktur - und wie viele Funktionen sind bei irgendeiner Krankheit des Organismus unmittelbar und mittelbar in Mitleidenschaft gezogen. Die Wandlung der Beziehung von Struktur und Funktion in der Zeit der Dauer der Krankheit zu erfassen ist eine hohe ärztliche Verantwortung. Denn wenn irreparable Strukturänderungen eingetreten sind muß die lädierte Funktion so umfassend als möglich wiederhergestellt und berücksichtigt werden daß sich funktionstherapeutisch angehbare Strukturen erst wieder entwickelt haben müssen. Die Quantifizierung der funktionellen Therapie gemessen an der Endqualität der Struktur - das ist auf eine kurze Formel gebracht das wissenschaftliche Hauptanliegen der Physiotherapie. Das heißt mit anderen Worten daß klinisch saubere Sachkenntnis der Natur der krankhaften Störung die conditio sine qua non für jedes physiotherapeutische Handeln sein muß das heißt aber auch daß die Physiotherapie als eine an die pathische und die seitliche Ganzheit des Krankheitsprozesses integrativ voll angepaßte Therapieform zu bewerten ist. Sei unser aller Bemühen in Lehre Forschung Praxis Aus- und Weiterbildung verantwortungsbewußt auf dieses zweifelsohne nicht leicht erreichbare Ziel ausgerichtet. Literatur 1. Ankert K.: Klin. Wschr. 49 (1971) 509. 2. 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