Balneobioklimatologie: Ein praktisches Beispiel ganzheitlich orientierter Therapie |
Journal/Book: Z. Physiother. 42 (1990) 5 S. 297-300. 1990;
Abstract: Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster (Direktor: OMR Prof. Dr. med. habil. H. Jordan) Der Begriff "Balneoklimatologie" als eine Spartenbezeichnung der Physikalischen Therapie oder Physiotherapie ist die wörtliche Übersetzung des älteren Begriffes "Bäder- und Klimaheilkunde" ist also gewissermaßen die Muttersubstanz aus der sich die Praxis der Kombination von Balneo- plus Klimatotherapie herleitet. H. Pfleiderer Westerland einer der Altmeister der wissenschaftlichen und praktischen Klimatherapie gründete im Jahre 1958 zusammen mit A. Böni Zürich eine medizinische Zeitschrift namens "Fundamenta balneo-bioclimatologica" in deren Titel das latinisierte Adjektiv durch einen Bindestrich getrennt war um anzudeuten daß hier zwei unterschiedliche Fachbereiche die Balneologie und die Bioklimatologie zusammengebracht werden sollten (Böno 1958). Ich verwendete seinerzeit 1964 die Bezeichnung "Balneobioklimatologie" als eine Zielstellung meines. "Grundrisses der Balneologie und Balneobioklimatologie" (Jordan 1964). um damit deutlich zu machen daß hierbei nur derjenige Teil der Bioklimatologie berücksichtigt werden sollte der im Bereich der Balneologie Anwendung finden kann. "Balneoklimatologie" konnte damit sowohl als ein Unterbegriff von "Bioklimatologie" als auch von "Balneologie" auf gefaßt werden (Jordan 1981). In einem solchen Verständnis ist bei uns dieser Begriff praktisch schon heimisch geworden; so führt beispielsweise auch eine Sektion unserer Gesellschaft für Physiotherapie den Namen "Sektion Balneobioklimatologie". Wenn wir dabei diesen Begriff "Balneobioklimatologie" ohne einen Trennungsstrich schreiben. so möchten wir damit auch schon ganz äußerlich den inneren (ja ich möchte beinahe sagen den innersten) Kern dieser Wertschöpfung berühren der eben nicht in einem Nebeneinander sondern in einer komplexen Verflechtung der Begriffe "Balneologie" und "Bioklimatologie" zu suchen ist. Es führt uns nun wesentlich weiter wenn wir anstelle von "komplexer Verflechtung" von "komplementärer" oder besser noch von einer "komplementaristischen" Bedingtheit der beiden begrifflichen Elemente "Balneologie" und "Bioklimatologie" reden. Wir wären mit diesem Ausdruck bereits berechtigt von einem "ganzheitlichen" Aspekt oder einer "ganzheitlichen Orientierung" zu sprechen. Mein Thema hat natürlich die "Balneobioklimatologie und nicht nur die "Balneobioklimatotherapie" zum Ausgangspunkt da ja letztere lediglich die praktische Seite ihrer theoretischen Grundlage darstellt wie ich schon sagte. Was verstehen wir unter einem "ganzheitlichen Aspekt" einer Therapie denn eigentlich? Ich habe anläßlich eines anderen Dreivierteljahrhunderjubiläums - dem der Gründung des Lehrstuhles für Physiotherapie der Humboldt-Universität zu Berlin (am 05. 12. 1980) zufällig dem 79. Geburtstag von W. Heisenberg - versucht diese Frage für das Gesamtgebiet der Physiotherapie zu umreißen (Jordan 1982). Ich bin von dem Ganzheitsbegriff ausgegangen wie er in der Philosophie Werner Heisenbergs dargelegt in dessen Publikation "Der Teil und das Ganze" (Heisenberg 1969) vorgestellt worden ist. Deren wesentlicher Grundbegriff ist der Begriff der "Komplementarität" wie er von Niels Bohr und seinem Kreis der Atomphysiker in den 20er Jahren geprägt worden ist (Bohr 1930). Auf ihn beziehe ich mich wenn ich von "komplementären" oder eben unmißverständlicher noch von "komplementaristischer Bedingtheit" der beiden Begriffe "Balneologie" und "Bioklimatologie" spreche. Auf dem Kongreß unserer Gesellschaft für Physiotherapie 1984 in Karl-Marx-Stadt habe ich dazu schon einmal ausführlicher gesprochen und brauche mich daher hier nicht zu wiederholen (Jordan 1986). Inwieweit kann man nun von einer "ganzheitlichen Orientierung" bei der Balneobioklimatologie sprechen? Ganz sicher ist es doch so daß die Balneotherapie oder besser die Kurortbehandlung in jedem Falle in gewisser Weise die Bioklimatotherapie integriert. Balneobioklimatotherapie meint ein Ganzes und ist ein solches; die Einflußsphären ihrer beiden Komponenten gehen untrennbar ineinander über. Wir sprechen dabei von einer Therapie im Klima wie sie praktisch bei jeder Kurortbehandlung im Prinzip gegeben ist oder aber von einer Therapie mit dem Klima wie sie bei reinen Klimakuren in Erscheinung tritt; eine sehr treffende Kurzformulierung die der Bioklimatologe Hentschel/Berlin-Buch gefunden hat (Hentschel 1971). Die Einflußfaktoren der Balneobioklimatotherapie gehören somit entweder zu den "backround"-Effekten der Kurorttherapie oder sind deren bewußt gewählte Zielstellung (Jordan 1980). In der Praxis besteht damit eine Art reziprokes Verhältnis der balneologischen und bioklimatischen Therapieelemente je nachdem welcher Anteil beider an Einwirkungsintensität oder Einwirkungsdauer in den Vordergrund der Therapiepraxis gerückt wird. Wenn man so will ist auch eine solche Reziprozität ein Kennzeichen eines komplementaristischen Verhaltens worauf ja schon Bohr selbst aufmerksam gemacht hat. Der Begriff "Komplementarität" wird für mancherlei Beziehungsgefüge eine fruchtbare Erweiterung der Erkenntnis bedeuten können wenn man die von Buchheim im Rahmen eines Arbeitskreises der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig gefundene Definition (Buchheim 1983) zugrunde legt auf die ich hier jetzt aus Zeitgründen nicht weiter eingehen kann und will (s. auch Jordan 1983). Wir sind uns hier sicherlich alle darüber im klaren daß die Forderung einer "Ganzheitstherapie" im strengeren Sinne des Begriffes wohl nie erfüllbar ist. Ebenso klar ist wohl aber auch daß Ganzheitstherapie als eine Forderung immer bestehen bleiben muß; die Nichterfüllbarkeit einer Zielstellung heißt ja nicht diese aufzugeben. Als erstes kommt dabei nun eine weitere sehr wichtige Art des komplementaristischen Aspektes zum Tragen die allerdings jeder Art von Therapie inhärent ist: ich meine die Komplementarität von Psyche und Physis. Jede Therapie berührt und betrifft ja stets den Menschen in dessen psychischer und physischer Totalität und mithin auch in seiner Gesamterlebnissphäre; jede Therapie besitzt damit unabhängig von ihrer Notwendigkeit und Effizienz auch "Wirkungen" und/oder "Nebenwirkungen". Dabei ist das Klimaerlebnis als Teil des Landschaftserlebnisses (Jordan 1970) von besonderer manchmal ausschlaggebender Bedeutung für den Kranken und damit naturgemäß auch für den Arzt der solche Zusammenhänge kennen muß. Eine der entscheidendsten Erwägungen die jeder Arzt treffen muß ist die der Abwägung von Nutzen und Risiko seiner Therapie eine Abschätzung der damit gegebenen Anforderungen an Physis und Psyche und jede derartige Entscheidung muß dem psychischen reaktiven Grundvermögen des jeweiligen Kranken möglichst gut angepaßt sein. Mit anderen Worten: Ganzheitstherapie muß versuchen eine möglichst große Zahl reaktiv nutzbarer und effektvoller Einwirkungsebenen des kranken Organismus zu treffen wobei immer zwischen Entlastendem bzw. Belastendem in Form der aktiven oder aber auch quietiven (Jordan 1987 und 1988) Therapie unterschieden werden muß. Die Abfolge solcher. Be- und Entlastungen ist ein ganz entscheidendes Kriterium einer Chronotherapie gerade eben auch im Hinblick auf die Balneobioklimatologie (oder die Physiotherapie überhaupt). Es gehört zu den ungeschriebenen aber durchaus auch den geschriebenen Gesetzen der Kurortbehandlung (d. h. zu den Erwartungen der Kurpatienten und gleichermaßen zu den Aufgaben der Kurärzte) unter Nutzung aller sich aus balneologischer und bioklimatologischer Sicht ergebenden Möglichkeiten einen entsprechenden Behandlungsplan für die Kranken im Kurort aufzustellen. Die Möglichkeiten von Therapieschäden durch die Balneobioklimatotherapie selbst sind gering auch wenn man berücksichtigt daß diese Therapie einer direkten Überwachung durch mittleres medizinisches oder gar ärztliches Personal nur sehr bedingt oder gar nicht unterworfen ist. Besonders dürfte das für die Therapie im Klima zutreffen. Sowohl die bioklimato- als auch die balneotherapeutischen Maßnahmen besitzen eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten aktiver passiver und/oder quietiver Behandlungsmöglichkeiten die chronotherapeutisch richtig eingeordnet sowohl physische als aber auch psychische Einflußnahmen auf einen kranken Organismus erlauben. Dabei wird aber nicht selten viel zu wenig von den bioklimatotherapeutischen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wobei nicht vordergründig an die beliebte Nutzung der aktinischen Komponenten sondern vielmehr an die Nutzung der thermohygrischen Komponente gedacht werden sollte. Das Gegenteil ist praktisch leider vorherrschend. Die Abhärtung (als eine spezielle Form der Adaptation und damit als eine "Regulation höherer Ordnung (Golenhofen 1966 anzusprechen) ist ein wesentlicher Teil der Kurortbehandung der sowohl bei einer Therapie mit dem Klima Als auch einer solchen im Klima erzielt werden Kann. Sie ist leicht durch serielle Abfolgen von Kältereizen durch Exposition an der Luft oder im Wasser erreichbar deren psychische Wirkungen hierbei nicht selten zu stark unterschätzt werden. Die relativ große Zahl von Einwirkungsmöglichkeiten auf den Organismus wie sie sich aus der Balneobioklimatologie ergeben bedeutet eine ebenso große (in Wirklichkeit natürlicherweise eingeschränkt) Zahl von Adaptationsmöglichkeiten. Aus den Ergebnissen der Stresslehre wissen wir daß Stressoren in serieller Anwendung sowohl über spezifische als auch unspezifische Mechanismen zu Anpassungseffekten unterschiedlicher Qualität führen die auf direkte und/oder kreuzadaptive Weise zustande kommen und durch eine Verminderung der sympathikoadrenalen Reaktivität gekennzeichnet sind. Die Adaptation oder Anpassung ist also eine reaktive Antwortleistung des Gesamtorganismus die sich gobal oder partiell allerdings in einer individuell oft recht unterschiedlichen Art und Weise realisieren kann und immer eine zeitliche Abfolge von Belastung und Entlastung im weitesten Wortsinn darstellt. Auch das gehört zum ganzheitstherapeutischen Aspekt der Balneobioklimatotherapie. Es muß jedoch gesagt werden . daß wir insgesamt noch weit davon entfernt sind die Erkenntnisse der Stressorenlehre die wir beim Gesund en oder gar beim sportlich trainierten Menschen gewonnen haben auf den kranken Organismus übertragen zu können; noch da zu Sinne einer wirksamen Therapie die wir sowohl als aktivieren den oder aber auch schonenden - ich möchte exakter sagen "quietiven"-Faktor in Anwendung bringen können. Ein letzter Gesichtspunkt: Wir verweisen gerne wenn wir die "Ganzheitstherapie" haben auf unsere komplexe Therapie die ja im Kurort möglich und gegeben sei. Der Begriff "Komplextherapie" sollte als terminus technicus alternativus für "Ganzheitstherapie" nicht in Gebrauch genommen werden; stets muß die genügend genaue Kenntnis der Kompartimente einer solchen "Komplexität" bekannt sein - überdies genügt hierbei nicht allein die Kenntnis der - wie wir gerne sagen - "Wirkungsphysiologie" der benutzten physikalischen Faktoren und deren reaktive Beantwortung des Organismus sondern wir müssen die Pathophysiologie d. h. die veränderten Reaktionsweisen des einzelnen Kranken heranziehen wenn wir eine brauchbare Therapieform daraus herleiten wollen. Allein schon die Frage nach der "Komplexität" sagen wir einer renommierten balneotherapeutischen Anwendung unter den Bedingungen bioklimatisch wirksamer Einflüsse wie sie im Kurort ständig gegeben sind ist ungenügend gelöst - ihre Lösung wäre der derzeit notwendige erste Schritt zu einer ganzheitlichen Orientierung unserer Therapie wobei zu bedenken ist daß zu solcher ganzheitlichen Orientierung nicht nur die Berücksichtigung der "pathischen" Totalität sondern auch der zeitlichen also der chronobiologischen Totalität gehört. Die chronobiologische Charakteristik einer Therapie ist ein Ordnungsfaktor ersten Ranges wie wir gerade durch das wissenschaftliche Werk meines Vorredners Herrn Hildebrandt wissen. Die funktionelle Ordnung ist ein Wesenszug der Chronotherapie und in ganzheitlicher Betrachtungsweise ein grundlegendes Element einer Ganzheitstherapie. Hierbei ist die Kurorttherapie natürlicherweise in einer schwierigen Lage da sie nur von einer begrenzten zeitlichen "Ganzheit" ausgehen kann und dann insbesondere die Abbruchs- oder reaktiven Desadaptationsphänomene in Betracht ziehen muß. Die Fülle der hierin liegenden Aufgaben und noch nicht bewältigten Probleme ist augenscheinlich. Meine Damen und Herren ich hoffe mit meinem kurzem und recht komprimierten Beitrag verdeutlicht zu haben daß es durchaus einen Sinn hat von einer ganzheitlich orientierten Therapie zu sprechen wenn wir über Balneobioklimatotherapie reden. Ich möchte bei der Bezeichnung "ganzheitlich orientiert" bleiben weil es vermessen wäre dabei schon von "Ganzheitstherapie" zu reden. "Ganzheitlichkeit" hat einen wissenschaftlich auch physikalisch naturwissenschaftlich fundierten Sinn der mit dem Begriff der "erweiterten Komplementarität" am besten umschrieben werden kann. Speziell die Balneobioklimatotherapie kann als komplementaristische Einheit ein derartiges Attribut nach meiner Meinung zuerkannt bekommen. Sie hat deshalb nicht nur im Rahmen der Physiotherapie selbst sondern innerhalb der ärztlichen Therapie überhaupt eine gewisse Sonderstellung inne die das epitheton ornans "ganzheitlich orientiert" mit gutem Gewissen erteilt bekommen kann. Literatur 1. BÖNI A. H. PFLEIDERER F. SCHEMINZKY: Fundamenta balneobioclimatologica. Offizielles Organ der Deutschen Gesellschaft für Balneologie Bioklimatologie und Physikalische Therapie. Fr.K. Schattauer Stuttgart 1958 1959 1960. 2. BOHR N.: Atomphysik und die Prinzipien der Naturbeschreibung. Naturwiss. 18 (1930) 4 73-78. 3. BUCHHEIM W. (Hrsg.): Beiträge zur Komplementarität (Vorwort). Abh.d.Sächs.Akad.d.Wiss.z.Leipzig Mat.-naturwiss. Kl.Bd.55 H.5 Akademie-Verlag Berlin 1983. 4. GOLENHOFEN K.: Physiologische Aspekte zur Soziosomatik des Kreislaufs. Verh. Dtsch. Ges. Kreislaufforsch. 32 (1966) 23-37. (Zitat: S. 24). 5. HEISENBERG W.: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. R. Piper & Co. München 1969. 6. HENTSCHEL G.: Die Aufgaben der Bioklimatologie im Kur- und Bäderwesen und deren praktische Durchführung. Z. Physiother. 23 (1971) 341-347. 7. JORDAN H.: Grundriß der Balneologie und Balneobioklimatologie. VEB G. Thieme Verlag Leipzig 1964. 8. JORDAN H.: Landschaftserlebnis: Wesen und Wertung. Z. angew. Bäder- und Klimaheilkd. 17 (1970) 4 364-370. 9. JORDAN H.: Kurorttherapie. VEB G. Fischer Verlag Jena 1975 2. Aufl. 1980. 10. JORDAN H.: Balneobioklimatologie - eine Zielstellung im Mensch-Umwelt-Konzept. Sitz.-Ber. d. Sächs. Akad. d. Wiss. z. Leipzig Math.-naturwiss. Kl. Bd. 114 H. 6. Akademie-Verlag Berlin 1981. 11. JORDAN H.: Ganzheitstherapie? Z. Physiother. 34 (1982) 15-21. 12. JORDAN H. Die Position der Physiotherapie im therapeutischen System aus komplementaristischer Sicht. Z. Physiother. 38 (1986) 139-144. 13. JORDAN H.: CO2-Bädertherapie. Fortb.-Tagg. "Aktuelle Physiotherapie" d. FSU Jena 4.2.1987. 14. JORDAN H.: "Quietive therapie". Phys. Ther. in Theorie u. Praxis 1988 (im Druck).
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