Leitlinien künftiger kurorttherapeutischer Forschung |
Journal/Book: Z. Physiother. 35 (1983) 331-334. 1983;
Abstract: Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster (Direktor: OMR Prof. Dr. med. habil. H. Jordan) 1Vortrag anläßlich der Verleihung des Julius-Grober-Preises zum 10. Kongreß der Gesellschaft für Physiotherapie der DDR vom 2.-4. November 1982 in Karl-Marx-Stadt Ich möchte an dieser Stelle einige Gedanken zur Weiterentwicklung einer effektiven balneobioklimatischen und kurorttherapeutischen Forschung äußern die sich mir in einer nunmehr 34jährigen Tätigkeit im Kur- und Bäderwesen und darin besonders in den 22 Jahren aufgedrängt haben in denen es mir möglich war das Forschungsinstitut für diesen Fachbereich in Bad Elster zu leiten. Diese langen Zeiträume wissenschaftlicher und praktischer Tätigkeit im Verbande eines zwar relativ kleinen aber breit differenzierten und produktiven Kollektivs von Mitarbeitern garantierten eine erfreuliche Kontinuität der konzeptionellen und methodischen Arbeit und erlauben deshalb einen weitgespannten Überblick sozusagen eines Menschenalters über Wesen und Wandlung der Kurorttherapie in all ihren breitgefächerten Aspekten. Ein bewegter Wechsel von Auffassungen und Meinungen im nationalen wie im internationalen Maßstab mit dem Erblühen und Ersterben so mancher Hypothese im wissenschaftlichen Blickfeld hat stattgefunden den gründlich zu beschreiben eine wohl lohnenswerte Aufgabe für einen Rentner wäre . . .! Es muß daher gerade in diesem Augenblick einer Würdigung vordergründig betont werden daß meine Arbeit ohne die mannigfachen schöpferischen Impulse unseres ganzen Arbeitskollektives - gerade auf jenen naturwissenschaftlichen Gebieten der Kurorttherapie etwa der Chemie der Biologie Geologie und Technik die mir aufgrund meiner ursprünglichen Ausbildung anfänglich weitgehend Neuland gewesen sind - nicht denkbar war und auch heute ist weshalb mich denn primär ein Dank an alle insbesondere die langjährigen Mitstreiter meines Institutes bewegt der hier ausgesprochen sei. Ich kann aber nicht verschweigen daß eine gleiche Dankbarkeit viel weiter und auch hinein in den familiären persönlichen Bereich ausgedehnt werden muß. Die Gesamtreaktion des kranken Menschen auf eine Therapie ist das entscheidende Phänomen dem im kurorttherapeutischen Bereich nachzugehen ist da der einzelne physiotherapeutische Wirkfaktor nur ein sehr begrenztes Einflußglied im Rahmen der Kurorttherapie darstellt. Diese Kurorttherapie - und in ihr besonders der balneobioklimatische Komplex ist ein definiertes und definierbares medizinisches Teilstück im Mensch-Umwelt-Konzept [3] das die Reaktivität des mit ihm konfrontierten Patienten sehr markant in Anspruch nimmt. Wird doch mit der Kurortbehandlung ein globales psychophysisches Geschehen wirksam das am aussichtsreichsten über das Studium sog. "unspezifischer" Reaktionsleistungen des Organismus zu erfassen ist. Wir müssen allerdings einräumen daß im Zeitalter molekularbiologischer Denk- und Arbeitsebenen die herkömmliche Unterscheidung von "spezifisch" und "unspezifisch" im Prinzip nicht mehr gerechtfertigt ist. Das wirklich "Spezifische" der menschlichen Reaktionen seines Verhaltens ist eben jene komplementare psycho-physische Leistung des Organismus die das eigentliche "Wesen" des Menschen seine "Wirklichkeit" und daher "Wirksamkeit" im zwischenmenschlichen Bezug [5] darstellt. Alle Mediatorsubstanzen besonders vielleicht die Prostaglandine und Thromboxane die die Prozesse der Reizbeantwortung der Immunmodulation der Verarbeitung aller Stressoreffekte der Adaptabilität wesentlich steuern nehmen eine Schlüsselposition für die reaktive Beantwortung der Umweltreize ein und müssen daher Basisobjekte einer multifaktoriell orientierten Therapieforschung bleiben. Freilich sind solche Untersuchungen vielfach von einer aufwendigen Methodik abhängig Fakten die realistisch durchdacht werden müssen. Aufwand und Nutzeffekt sind sehr sorgsam abzuwägen. Unsere "Kur" ist ihrem Wesen nach als ein chronobiologisches Phänomen zu erfassen; sie hat den Charakter eines dynamischen Prozesses mit einer Anlaufphase einem adaptiven Niveau und einer Auslaufphase und damit eine charakteristische Zeitstruktur die gekannt werden muß wenn eine optimale therapeutische Führung des Kurpatienten erreicht werden soll. Die Chronobiologie der Kurreaktion ist deshalb ein wichtiges Zielgebiet der Forschung. Dies muß jedoch zukünftig nicht mehr nur mit statischen sondern mit dynamischen Parametern betrieben werden; d. h. als Testgröße muß anstelle der funktionellen Leistung die funktionelle Leistungsdynamik Eingang finden [6]. In diesem Sinne bleibt die weitere Erforschung der "Reaktionsdynamik" des Kurpatienten die wesentliche Aufgabe; nicht zuletzt haben wir deshalb auf diesem Kongreß unsere Methode der "Streuung der interdiurnen Änderungen" als biometrische Arbeitsweise mit funktionsdiagnostischer Relevanz vorgestellt. Insgesamt sind hierbei kollektivstatistische Untersuchungen erforderlich die nicht "Niveaus" sondern "Bandbreiten der Normalität" [5] ermitteln lassen. Sie wissen daß unser Arbeitskreis sehr viel Mühe auf die Klärung der Frage verwendet hat mit welchen biometrischen Mitteln man der kollektiven Variabilität m. a. W. den intra- und interindividuellen Verhaltensweisen menschlicher Funktionen bzw. deren Meßwerte gerecht werden kann. Kurz zusammengefaßt sind das: Prüfung der Verteilung der Meßwerte einschließlich der Verteilungsasymmetrien Prüfung der Korrelationen und Regressionen unter Berücksichtigung der Zufallseffekte [z. B. dem a: (a-b)-Effekt] und schließlich die soeben erwähnte Streuung von Änderungen der Meßwerte. Es ist nun sehr an der Zeit diese biometrischen Rezepte in der praktischen Arbeit allgemein anzuwenden denn in dieser Hinsicht sind noch bedeutende Mängel feststellbar. Hier liegen große und noch keineswegs voll ausgeschöpfte Möglichkeiten mit relativ einfachen und wenig kostenintensiven Mitteln sehr praxiswirksame Forschungsarbeit zu betreiben. Im Sinne der erwähnten chronobiologischen Forschung sind vordergründig reaktionstypische Maxima und Minima im Zuge unterschiedlicher Reizserienregimes zur Ermöglichung und Optimierung der Steuerung von Antwortprozessen der unterschiedlichen Indikationsgruppen unserer Kurpatienten zu ermitteln. Dazu müssen möglichst einheitliche in möglichst vielen Kureinrichtungen nach gleicher Methodik durchführbare Erhebungen geplant werden die eine rechnergestützte Auswertung an einem großen Untersuchungsmaterial erlauben. Ich möchte wie eingangs bereits gesagt eindeutig dafür plädieren zukünftig mehr denn je das Studium komplexer Therapieregimes zu betreiben da nur solche mit größeren Gruppen befriedigend schnell zu praktisch verwertbaren Ergebnissen führen. Monotherapiestudien können deshalb natürlich nicht entfallen müssen aber letztlich ihrerseits auch wieder in komplextherapeutische Studien einfließen. Dazu gehört selbstredend auch die Pharmakotherapie wofür wir bereits in den 60er Jahren methodische Konzepte und auch einige praxisrelevante Ergebnisse vorgelegt haben die aber erheblich erweitert werden müßten [2]. Die therapeutischen Normative des Kur- und Bäderwesens müssen in dieser Hinsicht ständig revidiert werden. Schließlich ist noch der weiteren und breiteren Fundamentierung der Nutzbarkeit bioklimatologischer Wirkfaktoren das Wort zu reden da gerade hier noch entscheidende komplextherapeutisch angelegte Untersuchungen fehlen obwohl alle methodischen Voraussetzungen dazu vom Forschungsinstitut für Bioklimatologie Berlin-Buch geschaffen worden sind. Nur so können wir uns Schritt für Schritt einer fruchtbaren Analyse dessen nähern was wir unter einer ganzheitlichen Therapie verstehen wollen [4]. Vordergründig stehen hier die Probleme der Abhärtung sowie der Nutzung der UV-Strahlung zur Debatte. Als weiterer chronobiologischer Schwerpunkt ist in diesem Zusammenhang die Erforschung der saisonalen Abhängigkeit therapiebezogener Antwortreaktionen des Kurpatienten der verschiedenen Indikationsgebiete zu nennen. Der für jede wissenschaftliche Untersuchung notwendige Vergleich neuer Ergebnisse mit zeitlich mehr oder minder vielleicht Jahrzehnte weit zurückliegenden muß - das wird oft völlig übersehen - den "Panoramawandel" des Kurgeschehens der letzten Jahrzehnte sehr kritisch berücksichtigen. Dieser reicht von der sozialen Umschichtung der Kurteilnehmer über das zunehmend szientifizierte Krankheitsbewußtsein und -erlebnis des Gegenwartsmenschen die verschobene Alterszusammensetzung das veränderte soziologische Verständnis und Selbstverständnis die medikamentöse Vor- und Begleitbehandlung bis hin zum Wandel der Zielstellung der Kurorttherapie selbst aus einer vorwiegend passiv-entlastenden zu einer mehr aktiv-belastenden Form. Von der inhaltlichen Aufgabenstellung her muß die Kurorttherapie im Rahmen eines sozialistischen Gesundheitswesens bemüht bleiben eine wohlausgewogene Relation zwischen den präventivmedizinischen den therapeutischen und den rehabilitativen Zielstellungen und den ihnen jeweils zuzugestehenden Kurenkontingenten zu bewahren und dabei den epidemiologischen Entwicklungstrends der unterschiedlichen Indikationsgebiete zu folgen. Verstärkte Beachtung müssen die Kinderkuren erfahren deren medizinisches und pädagogisches Anliegen noch besser als bisher in die Kurorganisation integriert werden muß. Schließlich muß der rehabilitative Anteil der Kureinrichtungen zumindest quantitativ vor allem aber auch qualitativ auf ein höheres Niveau gebracht werden - ich denke hierbei nur an den unvertretbaren Rückstand der Therapiemöglichkeiten im und unter Wasser in unseren Kureinrichtungen. Wenn wir in diesem Jahr auf das 25jährige Bestehen unseres Forschungsinstitutes zurückblicken so möchte ich sagen daß für viele der hier angeschnittenen Aufgabenstellungen bereits ein brauchbares Fundament erarbeitet wurde von dem aus man ohne größere Schwierigkeiten die notwendigen Folgearbeiten wird beginnen können. Hier war ja zunächst nur von den Forschungsaufgaben die Rede - es bedarf keiner besonderen Betonung wieviel Mühe und Kraft auch dem Bemühen geopfert werden muß wissenschaftliche Ergebnisse in eine fruchtbare Praxis zu übertragen. Vielleicht erhellt aus diesen meinen notwendigerweise sehr kursorischen Bemerkungen doch so viel daß für die kurorttherapeutische Arbeit und deren wissenschaftliche Begründbarkeit (und das darf man glaube ich getrost auf das Gesamtfeld der Physiotherapie beziehen) ein breites interessantes aber auch mühevolles Tätigkeitsgebiet gegeben ist. Um es mit den Worten J. Grobers zu sagen: "Das alles bietet gute Hoffnungen für die Zukunft unserer therapeutischen Leistungen und ist geeignet die ärztliche Jugend anzuziehen ... hier gibt es Marschallstäbe im Tornister". Das war 1949 geschrieben - aber dieser Aufruf gilt heute wie damals! Ich persönlich werde mich jedenfalls diesem Aufgabenkreis widmen solange ich dies vermag und an welcher Stelle es sei - und dies zu bekräftigen möchte im besonderen als mein Dank an den Vorstand unserer Gesellschaft für Physiotherapie der DDR für die mir heute zugedachte Ehrung verstanden werden. Zusammenfassung Es wird ein Überblick über die Leitgedanken einer zukünftigen kurorttherapeutischen bzw. balneobioklimatischen Forschungsarbeit zu geben versucht wie er sich aus der Sicht eines fachbezogenen Forschungsinstitutes seinem derzeitigen Ergebnisstand einer 25jährigen Tätigkeit allgemeinen internationalen Trends und realen Arbeitsmöglichkeiten in der DDR darstellt. Vorrangig sind dabei Erfordernisse die sich aus dem Mensch-Umwelt-Verhältnis der chronobiologischen Konzeption und der Stellung des Kur- und Bäderwesens innerhalb des sozialistischen Gesundheitswesens ableiten lassen. Literatur 1. Grober. J.: Klinisches Lehrbuch der Physikalischen Therapie. Vorwort 1949. VEB Gustav Fischer Verlag Jena 195O. 2. Jordan H. und H. Münch: Experimentelle Untersuchungen zum Studium von Therapieeffekten bei sogenannter "kombinierter Balneotherapie". 7. und letzte Mitteilung: Untersuchungen mit Rauwasan. Fund. baln.-bioclim. III (1966) 223-229. 3. Jordan H.: Balneobioklimatologie - Eine Zielstellung im Mensch-Umwelt-Konzept. Sitz.-Ber. d. Sächs. Akad. d. Wiss. s. Leipzig Math.-naturwiss. Kl. Bd. 114 H. 6. Akademie-Verlag Berlin 1981. 4. Ders.: Ganzheitstherapie? Z. Physiother. 34 (1982) 15-21. 5. Ders.: Zur funktionellen Normalität des Menschen. Sitz.-Ber. d. Sächs. Akad. d. Wiss. z. Leipzig Math.- naturwiss. Kl. (im Druck). 6. Tiedt N. (Hrsg.): Herz-Kreislauf-Funktionen. VEB Verlag Volk und Gesundheit Berlin 1979.
Keyword(s): Balneologische Forschung Bioklimatologie Biometrie Kurortwissenschaft
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