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May 2024

Physiotherapie als integrative Therapie - Ein Konzept

Journal/Book: Z. Physiother. 27 (1975) 3 S. 161-165. 1975;

Abstract: Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster (Direktor: Dr. med. habil. H. Jordan) 1Vortrag anläßlich des 40jährigen Bestehens des Kneippkurbades Berggießhübel am 6. XII. 1974. Ich möchte mit einer Betrachtung aus der griechischen Mythologie beginnen: Chiron der Kentaur mit Tierleib und Menschenhaupt Verkörperer des Erdhaften und des Apollinischen des animalischen und des vernunftsbegabten Wesens - er und nur er ist der Lehrer des Asklepios des göttlichen Vaters der Heilkunde: der heros iatros ist der Erzieher des iatros isotheos. Nun - das Eindringen moderner naturwissenschaftlicher Forschung in die Beziehungen von Bionomie Pathokinese Pathogenese und Hygiogenese hat wohl den Mythos der Gottgleichheit des Arztes zerstört konnte aber nicht die Wahrheit des Sachverhaltes erschüttern daß die Heilkunde unverrückbar notwendig auf jenen beiden Fundamenten beruhe: der Kräfte des erdhaft-animalischen Wesens des Menschen und seiner Vernunft und seinem Gespür für eben dieses Menschen-Wesen. Diese erdhaft animalische Kraft ist nicht als eine "vis medicatrix" zu verstehen: "Kraft" ist ein Begriff; Begriffe können nicht heilen. Jedoch besitzt jeder Organismus Funktionen die für jede Art von Therapie stimuliert werden müssen wenn die Hygiogenese ihr Ziel: die Bionomie erreichen will. Ist hierin schon eine dualistische Ganzheit zwischen Körperlichem und Geistigem im Vollzug der Therapie als originales Fundament der Medizin gelegt worden so erweitert sich diese Ganzheit schon im Denkansatz der hellenistischen Philosophie - etwa im Theaitetos-Dialog des Plato - dahingehend daß das Ganze to holon mehr sei als die es zusammensetzenden Teile und daß das Gesamte to pan nur aus "ganzen Teilen" zusammengesetzt sein könne. Dies bedeutet daß eine Krankheit eine Störung aller oder zumindest vieler Teile des menschlichen "holon" darstellt und daß die Gesamtheit des Bios nur unversehrt bleiben kann wenn dessen Einzelglieder gesund sind. Die etymologische Brücke holon - im Griechischen heilen - im Deutschen whole - im Englischen führt uns zu dem Schluß: heilen heißt: "wieder ein Ganzes" machen - - - und das Verbum auf das unser deutsches Wort "Therapie" zurückgeht bedeutet ja nicht "heilen" sondern "pflegen besorgen warten". Heilen in einem solchen Lichte betrachtet hieße also das "ganze Kranke" zu berücksichtigen und dies bedeutet dreierlei: - die pathische Ganzheit - die zeitliche Ganzheit und - die bioökologische Ganzheit zu berücksichtigen. Soll dies geschehen so muß auch die Analyse der Krankheit diese drei Kategorien berücksichtigen - die medizinische Diagnose ist gewissermaßen als Raumvektor dieser 3 Kategorien definierbar. Claude Bernard meinte die Wissenschaft besteht nicht aus Tatsachen, sondern aus den Schlüssen, die aus den Tatsachen gezogen werden . Und Pasqual Jordan hat postuliert der "Zwang des wissenschaftlichen Denkens" sei "unser großes ernstes und herrliches Schicksal" [6]. Es ist groß: ja. Es ist ernst: ja. Herrlich kann es nur sein wenn unter "wissenschaftlichem Denken" das verstanden wird was mit dem zitierten Wort von Claude Bernard gesagt ist. Die Schlüsse zu ziehen nicht die Feststellung von Tatsachen ist Sinn und Zweck der Wissenschaft. Wissenschaft hat Objektivität als ihre Arbeitsmethode sie muß Subjektivität oder - wenn man es so ausdrücken will - Parteilichkeit als entscheidendes Kriterium ihres Anwendungszieles beherzigen. Nun ist aber - im sinne des zitierten platonischen Gedankens - der Mensch das Humanum nicht losgelöst von seiner sozialen und biologischen Umwelt zu betrachten. Stets ist das menschliche Individuum in überpersönliche allgemeine Zeitprobleme eingeordnet; der Gegenwartsmensch mit seinen Neigungen zum absoluten Perfektionismus - der Mensch des "spätestens sofort und mindestens vollkommenen" (wie es Heyer [4] nennt) - kann nur durch eine konsequente Rückbesinnung auf Gesellschaft und Umwelt im weitesten Sinne vor der Entgleisung in eine szientifizierte Versachlichung seines Wesens in eine zweckbetonte Hybris und eine fatalistische Relativisierung seines Daseins und seiner Verantwortung bewahrt werden. Homo sapiens" - das ist noch immer der stolze Gattungsname den sich der Mensch zugelegt hat. Führt ihn diese "Sapientia" konsequent und rettungslos in die abstrakte funktionale Sphäre eines "Homo faber" läßt sie ihn verleugnen daß auch ein "Homo ludens" seine Existenzberechtigung hat sogar ein "Homo somniculus" ? Ganzheit würde auch diesen Komplex einbeziehen; das hieße nichts weniger" als den Menschen auch in seiner individualen Geschlossenheit zu werten und - im Falle der Therapie - ihn sowohl in seiner körperlichen als auch geistigen und seiner Gefühls- und Empfindungsphase zu erfassen. Wir wissen daß Reizbarkeit Explosivität und Aggressivität als unmittelbare Folge des Bewegungsmangels entstehen Magenulzera bei Tieren als Folge einer zu hohen Populationsdichte experimentell hervorgerufen werden können und daß Flaschenkinder unter sonst völlig gleichen Bedingungen der Nahrung schlechter gedeihen als Brustkinder um nur drei Beispiele anzusprechen die zeigen daß nicht nur die biologische sondern auch die psychosoziale Umwelt mit dem menschlichen Organismus in einer feedback-Relation steht. So kann z. B. eine Erholungslandschaft nicht einfach passiv genossen ihre Natur muß vom Erholungssuchenden ver- oder besser erarbeitet werden: das ist der tiefere Realwert einer aktiven Therapie. Ein weiterer Aspekt: Schon 1805 klagte Döllinger [2] über den zunehmenden medizinischen Terrorismus" worunter das Überhandnehmen der Pharmakotherapie unter Vernachlässigung der körpereigenen hygiogenetischen Potenzen verstanden wurde. Nach Hoff haben wir im Schnitt mit > 60% "Scheingesunden und Kompensiertkranken" zu rechnen [5]. Daraus folgert daß nur wenige Kranke ohne gleichzeitige medikamentöse Therapie zur physiotherapeutischen Behandlung kommen daß die Dunkelziffer der latenten d. h. nicht vom Arzt erfaßten Arbeitsunfähigkeit (oder reduzierten Arbeitsfähigkeit) sehr hoch anzusetzen ist und daß die Quote der Arzneimittel- oder Therapieschäden ständig zunimmt. Die Notwendigkeit des "einfachen Heilplanes" ist nach Hoff eine dringende wissenschaftliche Forderung an den Arzt der Gegenwart. Hier tut man gut sich nochmals an die Grundbedeutung der Vokabel "therapeuein = pflegen" zu erinnern und wieder den alten Begriff der "Diaita" im Sinne der "Ordnung der Lebensführung" als Grundpfeiler jeder Therapie anzuerkennen. Therapie ist oder sollte immer auch sein Ordnung - Ordnung der Grundfunktionen im Voglerschen Sinne Ordnung damit zugleich der Biorhythmik und Ordnung der Quantifizierung von Entlastung und Belastung als Möglichkeiten zur Restabilisierung der Bionomie. Der Krankheitsablauf besitzt neben seiner wie Newton sie bezeichnete physikalischen relativen Zeit eine eigene Zeitstruktur die er als "absolute" Zeit definierte oder die man mit Leibniz als die "Ordnung des Nacheinander der Erscheinungen" bezeichnen muß. Claude Bernard sprach im gleichen Sinne: L'élément ultime est physique, l'arrangement est vital - die Einzelvorgänge unterliegen den physikalischen Gesetzen ihr Ablauf denen des Lebens. Mir drängt sich als Vergleich dabei immer die Betrachtung eines geologischen Zustandbildes auf dessen Aussage und Bedeutung nur derjenige voll erfaßt der dieses Zustandsbild sich als "Ablaufbild" in der Zeit vorzustellen vermag. Nun - Zunahme der Ordnung in einem System bedeutet Zunahme seiner negativen Entropie bzw. anders ausgedrückt Zunahme der Informationsmenge zur Beschreibung des Systems. Das heißt daß das Erreichen eines Ordnungszieles auch das Maß der Unsicherheit verringern muß mit der definierte Reise am definierten Empfangsort eintreffen. Der aus koordinierten multiplen Funktionskreisen aufgebaute Organismus ist aber weder aus unserem derzeitigen Wissen noch vermutlich prinzipiell in derart subtiler Weise durchschaubar daß eine genau planbare Quantität und Qualität solcher therapeutischer Ordnungszüge für den Arzt garantiert ist - und eben deshalb bedarf es der Beobachtung des "vitalen Arrangementes" nach Bernard mehr und eher als des Verfolges seiner physikalischen abklärbaren Einzelphänomene. Es ist nun an der Zeit das bisher Gesagte mit der Fragestellung zu ordnen was dies alles mit dem Begriff einer "integrativen Therapie" zu tun habe von der ich hinsichtlich der Physiotherapie sprechen wollte. Integrativ soll in diesem Zusammenhang als Gegensatz zu "differenziert" verstanden oder im Sinne des Bestrebens gedeutet werden ein zusammenhängendes Ganzes zu bilden. In dieser Konzeption hat die Physiotherapie drei Aspekte: - ihre Rolle als unabdingbare Ergänzung jeder einzelnen Therapie im Heilplan - ihre Charakteristik der rhythmisch-funktionellen Inanspruchnahme möglichst vieler integrativer koaktiver Verbundleistungen des Organismus - ihre bewußte Einbeziehung naturgegebener Faktoren in den Heilplan. Diese 3 Aspekte sind als dialektische Einheit zu begreifen und repräsentieren nur verschiedene Blickwinkel im gleichen Betrachtungsraum. Wir müssen zunächst resümieren: Unserer Auffassung entsprechend muß ein wirklicher Gesamtheitplan die pathische und zeitliche Ganzheit der Krankheit den Menschen als psycho-physischen Komplex und seine Einordnung in die Umwelt im weitesten Sinne umfassen. Er muß möglichst einfach und durch ein Minimum an Neben- oder Schadenseffekten charakterisiert sein und zugleich neben seinem therapeutischen Nahziel noch die Begünstigung der Rehabilitation und das Fernziel einer sekundären Prävention anvisieren. Der Kranke muß nicht nur wissenschaftlich korrekt sondern auch seiner Erlebenssphäre adäquat behandelt und aktiv in die hygiogenetische Leistung - und zwar psychisch und physisch aktiv - einbezogen werden. "Der Kranke ist nicht mehr unser Objekt sondern er ist unser Mitarbeiter" - so Kourilsky der Pariser Kliniker 1963 [7]. Bei näherer Betrachtung müssen wir freilich einräumen daß nicht alles was derzeit unter dem Oberbegriff "Physiotherapie" rubriziert wird einen gleichen Stellenwert im System einer derart integrativen Therapie beanspruchen kann. Sehr selektiven Verfahren wie z. B. die Reizstromtherapie oder die medikamentöse Aerosolbehandlung stehen solche gegenüber die sich durch eine starke integrative Charakteristik auszeichnen etwa die Bewegungstherapie die Thermotherapie die Klimatherapie. Die Kurorttherapie ist hierbei sozusagen als der Prototyp der integrativen Therapie anzusprechen; sie ist nicht nur "komplex" durch die Einbeziehung naturgegebener Heilfaktoren sie muß und darf berechtigt als "adaptive Leistungstherapie" gekennzeichnet werden. Etwas überspitzt könnte man formulieren die Physiotherapie habe sich im Gesamtheilplan um alle diejenigen Teile bzw. Funktionen des Kranken zu kümmern die durch die medikamentöse oder chirurgische Therapie nicht genügend oder gar nicht tangiert werden. Dies kann sogar auch auf die psychische Therapie ausgedehnt werden. Das Paradebeispiel ist hier die präoperative Physiotherapie mit der der zukünftig zu operierende Kranke auf den Streß der Operation auf die negative Phase der erzwungenen Bettruhe und die postoperativ veränderte funktionelle Situation vorbereitet geschult trainiert wird. Funktionen und Strukturen stehen in einem dualen oder dialektischen Zusammenhang der sich für den therapeutischen Akt zu der Aussage vereinfachen läßt daß ohne optimale Funktion keine optimalen Strukturen erhalten bleiben können. Das Funktionstraining ist das Mittel zur Erzielung voll leistungsfähiger Strukturen unter ökonomischen Stoffwechselbedingungen. Man kann im Tierversuch sehr schön nachweisen daß durch Training die aus körperlicher Überbelastung resultierende Immunschwäche ausbleibt [8]; ein wohl beachtenswertes Geschehen das im Sinne einer crossed adaptation gedeutet werden kann. Aus dem Konzept einer integrativen Physiotherapie ergeben sich weitreichende praktische Konsequenzen. So ist das Fachgebiet Physiotherapie nicht nur als eine spezialisierte Methodenlehre aufzufassen etwa der radiologischen Therapie vergleichbar sondern repräsentiert einen ganzen Denkansatz der Medizin. Als solcher muß es die Gestaltung des studentischen Unterrichtes und die fachspezifische Weiterbildung d. h. die Facharztausbildung bestimmen. In der therapeutischen Forschung steht die Frage nach dem Stellenwert der Physiotherapie im gesamttherapeutischen Plan im Vordergrund. Es ergeben sich ferner Schlußfolgerungen für einen effektiven Einbau der Physiotherapie in die anderen bestehenden klinischen Fachgebiete. Es gilt - auf ein Schlagwort reduziert - für den Physiotherapeuten mehr integrativ und weniger autokrativ zu denken und zu handeln. Es ist dies kein neuer und schon gar kein "moderner" Aspekt der Physiotherapie. Richtig verstanden bedeutet er nur das was in früheren Zeiten empirisch zum bewährten Rüstzeug des Arztes gehört hat heute geläutert im wissenschaftlichen Prozeß erneut bewußt und zielstrebig wieder in das Handeln des Arztes grundlegend einzubinden. "Modern" ist nur die Signatur unserer Gegenwart mit ihrer szientifizierten und technifizierten Lebensform deren Gefahren zu leugnen unverantwortlich wäre den Gefahren aus gesicherter Position entgegenzuarbeiten aber höchste Verpflichtung ist. Denn - so hat es der Musiker Igor Strawinsky ausgedrückt: "wahre Tradition ist nicht Zeuge einer abgeschlossenen Vergangenheit sondern eine lebendige Kraft welche die Gegenwart anregt und belebt." Es sollte auch das darf anläßlich des 40jährigen Bestehens dieses Hauses heute gesagt werden das Empirische der Hydrotherapie eines Kneipp Hahn und Priessnitz untermauert durch wissenschaftliche Erkenntnis und eingebettet in das Konzept der integrativen Heilmethoden weitergeführt und der Therapie nutzbar gemacht werden als lebendiges und belebendes Element unserer Heilkunde. Ein abschließender notwendiger Gedanke: Integrativ denken heißt auch die Grenzen dessen zu kennen das integriert werden soll. Wir sollten - wohl durchaus heute schon oder heute wieder - eher fragen was die Physiotherapie nicht zu leisten vermag als danach was sie kann. Nicht alles was uns die sogenannte "Wirkungsphysiologie" als Wirkfakten oder Wirkmöglichkeiten vorzustellen vermag besitzt auch damit schon den Rang einer therapeutischen Qualifikation. Daß eine bestimmte Behandlungsweise im definierten Falle "nicht schadet" ist - auch angesichts des bereits zitierten Therapieschadenproblems - noch keine genügende Empfehlung sie in den Therapieplan aufzunehmen. Es stellt an die Gewissensverantwortung des Arztes hohe Anforderungen der Entscheidung - und dies setzt subtile Kenntnis des krankhaften Prozesses und der Gesamtsituation des kranken Menschen voraus. Gerade aber eben deshalb ist für die Physiotherapie in Theorie und Praxis die Integration in das klinische Fachwissen unabdingbar. Alle Hilfe die dem leidenden Menschen zuteil werden kann soll nach einem Wort des Klinikers Bock [1] tuto cito et jucunde geschehen. Hieran allein kann der Wert des Therapieregimes bestimmt werden: Bringt es diese Hilfe sicher schnell und in schonendster Weise? In diesem Wettstreit einzutreten ist letzte Konsequenz der integrativen Therapie. Ich sprach von einem Konzept der Physiotherapie das ich darstellen wollte. Ein Konzept bildet sich aus der Erfahrung und bedarf der analytischen Prüfung wozu ich mit diesem Vortrag auffordern möchte. Aber es trifft so meine ich vollends zu was Goethe 1887 den Analytikern zu bedenken gab: "Die Hauptsache woran man - - - nicht zu denken scheint ist daß jede Analyse eine Synthese voraussetzt" [3]. Literatur 1. Bock H.-E.: Münch. med. Wschr. 115 (1973) 1269. 2. Döllinger: zit. n. Kötschau K.: Physik. Med. Rehabil. 13 (1972) 255. 3. Goethe J. W. v.: Ges. Werke hrsg. v. J. Kürschner Bd. 34 S. 61. Berlin und Stuttgart 1887. 4. Heyer G. H.: Lindauer Psychotherapiewoche 1957. 5. Hoff F.: Klinische Physiologie und Pathologie 5. Aufl. Georg Thieme Verlag Stuttgart 1957. 6. Jordan P.: Die Physik und das Geheimnis des organischen Lebens. Braunschweig 1947. 7. Kourilsky R.: Der Mensch und das Leben Bd. 7. Urania-Verlag Leipzig-Jena-Berlin 1963. 8. Müller U.: Med. Welt 24 (N. F.) (1973) 1612.

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